Nordermoor
sehr groß. Einars Stirn war niedrig und ein wenig gewölbt, die Augenbrauen dicht, die Augen lagen eng beieinander; in dem hageren Gesicht traten die Wangenknochen deutlich hervor, und die Zähne standen ein klein wenig vor. Die Nase war schmal, die Lippen ebenfalls, aber das Kinn war kräftig und der Hals lang.
Sie blickten einander geraume Zeit in die Augen.
»Wer bist du?«, fragte Einar.
»Ich bin Erlendur. Holberg ist mein Fall.«
»Wunderst du dich, wie ähnlich ich ihm bin?«, fragte Einar.
»Es gibt eine gewisse Ähnlichkeit«, sagte Erlendur.
»Du weißt, dass er meine Mutter vergewaltigt hat«, sagte Einar.
»Das ist nicht deine Schuld«, sagte Erlendur.
»Er war mein Vater.«
»Das ist auch nicht deine Schuld.«
»Das hier hättest du nicht tun sollen«, sagte Einar und zeigte auf den Sarg.
»Ich sah mich dazu gezwungen«, sagte Erlendur. »Ich kam zu dem Ergebnis, dass Auður an derselben Krankheit gestorben ist wie deine Tochter.«
»Ich bringe sie wieder an ihren Platz zurück«, sagte Einar.
»Das ist in Ordnung«, sagte Erlendur und näherte sich dem Sarg. »Du willst bestimmt das hier mit im Grab haben.« Erlendur stellte die schwarze Ledertasche hin, die er im Auto aufbewahrt hatte, seit er beim Sammler gewesen war.
»Was ist das?«, fragte Einar.
»Die Krankheit«, sagte Erlendur.
»Ich verstehe nicht …«
»Dies ist eine Organprobe von Auður. Ich finde, sie sollte hier sein.«
Einar schaute abwechselnd auf die Tasche und auf Erlendur, unsicher, wie er darauf reagieren sollte. Erlendur trat noch näher an den Sarg, der zwischen ihnen stand. Er stellte die Tasche auf den Sarg und trat dann ruhig wieder zurück an die Stelle, wo er gestanden hatte.
»Ich möchte eingeäschert werden«, sagte Einar plötzlich.
»Du hast noch dein ganzes Leben, um das in die Wege zu leiten«, sagte Erlendur.
»Genau, mein Leben«, sagte Einar und erhob die Stimme. »Was ist das? Was ist ein Leben, wenn es nur sieben Jahre dauert? Kannst du mir das sagen? Was für ein Leben ist das?«
»Ich kann dir das nicht sagen«, sagte Erlendur. »Hast du das Gewehr bei dir?«
»Ich habe mit Elín gesprochen«, sagte Einar und beantwortete die Frage nicht. »Das weißt du wahrscheinlich. Wir haben über Auður gesprochen. Meine Schwester. Ich wusste von ihr, aber dass sie meine Schwester war, habe ich erst später erfahren. Ich habe zugeschaut, wie ihr sie aus dem Grab geholt habt. Ich habe Elín gut verstanden, als sie sich auf dich stürzte.«
»Wieso wusstest du von Auður?«
»Durch die Datenbank. Ich habe die gefunden, die an dieser spezifischen Krankheit gestorben sind. Da wusste ich aber noch nicht, dass ich Holbergs Sohn bin und dass Auður meine Schwester ist. Das habe ich erst später herausbekommen. Wie ich gezeugt wurde. Als ich Mama gefragt habe.«
Er schaute Erlendur an.
»Nachdem ich herausgefunden hatte, dass ich Erbträger bin.«
»Wie hast du Holberg und Auður in Verbindung gebracht?«
»Durch die Krankheit. Diese Variante. Ein Hirntumor ist etwas Seltenes.«
Einar verstummte eine Weile, aber dann begann er zu erzählen. Er berichtete ohne Schnörkel und ohne jegliche Sentimentalität. Es war, als hätte er sich darauf vorbereitet, einen Bericht über seine Handlungen abgeben zu müssen. Er sprach die ganze Zeit sehr leise, und ab und zu sank di e Stimme zu einem Flüstern hinab. Das hohle Geräusch des auf den Sarg prasselnden Regens wurde in die nächtliche Stille hinausgetragen.
Er berichtete davon, wie seine Tochter im Alter von vier Jahren urplötzlich erkrankte. Es erwies sich als schwierig, die Krankheit zu diagnostizieren, und es vergingen Monate, bis die Ärzte zu dem Ergebnis kamen, dass es sich um eine seltene Nervenkrankheit handelte. Man glaubte, dass diese Krankheit erbbedingt und an bestimmte Familien gebunden war, aber das Merkwürdige war, dass es diese Krankheit weder in der Familie der Mutter noch der des Vaters gab. Das war eine Abweichung, die die Ärzte sich kaum zu erklären wussten, höchstens mit einer Mutation.
Ihnen wurde gesagt, dass die Krankheit im Gehirn angesiedelt sei und innerhalb von wenigen Jahren zum Tode führen konnte. Damit begann eine Zeit, von der Einar sagte, er könne sie nicht beschreiben.
»Hast du Kinder?«, fragte er stattdessen.
»Zwei«, sagte Erlendur. »Einen Jungen und ein Mädchen.«
»Wir hatten nur sie«, sagte er. »Und wir haben uns getrennt, als sie nicht mehr war. Es gab irgendwie nichts, was uns zusammenhielt,
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