Nordermoor
regnete immer noch weiter, aber es stürmte nicht mehr. Bald würde der Winter einsetzen, mit Frost und Dunkelheit. Erlendur graute es nicht mehr davor.
Weil seine Tochter so hartnäckig blieb, ging Erlendur endlich zum Arzt. Der stellte fest, dass die Schmerzen von den Bandscheiben herrührten, was wohl auf eine schlechte Matratze und zu wenig Bewegung zurückzuführen sei.
Eines Tages fragte Erlendur Eva Lind über dampfender Fleischsuppe, ob er den Namen des Kindes wählen dürfte, falls es ein Mädchen würde. Sie sagte, sie habe schon auf seine Vorschläge gewartet.
»Wie willst du sie nennen?«, fragte sie.
Erlendur schaute sie an.
»Auð ur«, sagte er. »Ich finde, es wäre schön, sie Auður zu nennen.«
NACHWORT
von Coletta Bürling
R und 280.000 Menschen, etwa 2.6 Einwohner pro Quadratkilometer, leben auf Island. Man fragt sich, ob Isländer es sich angesichts solcher Zahlen überhaupt leisten können, sich gegenseitig zu dezimieren; diese extremste Form aller zwischenmenschlichen Beziehungen steht jedoch in uralter Tradition, denn schon in den mittelalterlichen isländischen Sagas hat man sich auf derartige Aktivitäten verstanden. Der Homo islandicus unterscheidet sich diesbezüglich kaum von seinen Art- bzw. Zeitgenossen in vielbevölkerten Ländern. Insofern ist es eigentlich schon mehr als überfällig, dass Island sich einen Platz auf der Weltkarte der Kriminalliteratur erobert.
Der Schauplatz des Mordes in diesem Krimi ist das Reykjavíker Stadtviertel Nordermoor. Wie der Name besagt, ist es ein ehemaliges Sumpfgebiet, das trockengelegt wurde.
Die Menschen auf diesem europäischen Außenposten haben eine unkomplizierte Weise miteinander umzugehen. Jeder duzt jeden. Nachnamen sind (mit einigen wenigen Ausnahmen) unüblich, jeder neue Erdenbürger wird nach dem Vater (bzw. heute in Zeiten der Gleichberechtigung wahlweise auch nach der Mutter) benannt. Wenn Erlendur Sveinsson so etwas wie einen Nachnamen zu haben scheint, so bedeutet das lediglich, dass sein Vater Sveinn hieß. Eva Lind ist die Tochter von Erlendur, also Erlendsdóttir. Wer auch immer die Gelegenheit hat, nach Island zu reisen, sollte sich spaßeshalber das isländische Telefonbuch vorknöpfen. Dort findet man den Autor Arnaldur Indriðason nämlich unter dem Buchstaben A, nicht I, und die Übersetzerin unter C wie Coletta.
Die isländische Sprache ist ein Unikum unter den germanischen Sprachen. Sie ist sozusagen stehengeblieben auf der Stufe das Althochdeutschen, es gibt so gut wie keine Fremdwörter, und selbst bis ins Computerzeitalter hinein haben die Isländer an einem Alphabet von 32 Buchstaben festgehalten. Dem Leser werden nicht zuletzt die urtümlichen Buchstaben wie Þ (ausgesprochen wie das ›th‹ in englisch ›thing‹) oder ð (ausgesprochen wie im englischen Artikel ›the‹) auffallen.
Auch historisches Traditionsbewusstse in spielt eine Rolle. Der Ort Þingvellir (= Thingebenen) wird mehrfach wie selbstverständlich eingeflochten. An diesem landschaftlich eindrucksvollen Ort gründeten die ersten Siedler im Jahre 930 das älteste noch existierende Parlament der Welt, das Allthing. Zu feierlichen Anlässen, wie etwa dem 1100-jährigen Jubiläum der Besiedlung Islands (das im Buch einige Male Erwähnung findet) kommen dort Zigtausende zusammen, um gemeinsam zu feiern. Die Fixierung auf die Tradition, auf die eigene Abstammung und die Ahnentafel (für das verbreitete Hobby Ahnenforschung gibt es sogar Volkshochschulkurse) hat in jüngster Zeit eine ganz neue Aktualität gewonnen, da jetzt auf einmal das Interesse an den Vorfahren im Zuge der Gentechnologie ganz neue Perspektiven bietet. Island ist trotz seiner extremen Randlage heutzutage alles andere als eine abgelegene Insel.
Weitere Kostenlose Bücher