Nordermoor
nie zuvor gesehen, erkannte aber gleich die Ähnlichkeit.
»Hallo, Papa«, sagte Einar höhnisch. Er konnte seine Wut nicht verhehlen.
»Wer bist du?«, fragte Holberg, dem sein Erstaunen anzumerken war.
»Na, dein Sohn doch«, sagte Einar.
»Was soll das
…
Hast du immer bei mir angerufen? Lass mich gefälligst in Ruhe. Ich kenne dich überhaupt nicht. Du bist eindeutig nicht bei Trost!«
Sie waren etwa von gleicher Größe. Einar war am meisten überrascht darüber, wie alt und kränklich Holberg aussah. Wenn er sprach, hörte man tief in der Kehle die rasselnden Geräusche eines langjährigen Rauchers. Er hatte einen bräunlichen Teint, grobe Züge und dunkle Ringe unter den Augen, und das graue Haar klebte dicht am Kopf. Die Haut war lederig, die Fingerkuppen gelb. Die Schultern waren ein wenig gebeugt, die Augen farblos und stumpf. Holberg wollte die Tür zumachen, aber Einar war stärker und schob ihn mit der Tür in den Flur. Er betrat die Wohnung und machte die Tür zu. Er verspürte sofort den Geruch. Wie von Pferden, aber viel schlimmer.
»Was bewahrst du hier auf?«, sagte Einar.
»Verschwinde auf der Stelle«, Holbergs Stimme überschlug sich fast, als er Einar anschrie und rückwärts ins Wohnzimmer zurückwich.
»Ich habe das gute Recht, hier zu sein«, sagte Einar und blickte sich um, sah den Bücherschrank und den Computer in der Ecke.
»Ich bin dein Sohn. Der verlorene Sohn. Darf ich dich etwas fragen, Papa?
Hast du noch mehr Frauen als Mama vergewaltigt?«
»Ich rufe die Polizei.« Das Rasseln wurde stärker, weil er aufgeregt war.
»Das ist schon lange überfällig«, sagte Einar, und Holberg zögerte.
»Was willst du von mir?«, sagte er.
»Du hast keinen blassen Schimmer, was geschehen ist, und es geht dich nichts an. Könnte dir nicht gleichgültiger sein. Das stimmt doch, oder?«
»Diese Ähnlichkeit«, sagte Holberg, ohne den Satz zu beenden.
Er blickte aus farblosen Augen auf Einar und betrachtete ihn eine ganze Weile, bis er begriffen hatte, was Einar sagte, dass er sein Sohn sei. Einar sah, wie er zauderte. Sah, wie er sich den Kopf über das zerbrach, was Einar gesagt hatte.
»Ich habe nie in meinem Leben jemanden vergewaltigt«, sagte Holberg endlich. »Das sind alles verdammte Lügen. Sie haben behauptet, dass ich eine Tochter in Keflavík hätte, und ihre Mutter hat mich wegen Vergewaltigung angezeigt, aber das konnte sie nie beweisen. Ich bin nicht verurteilt worden.«
»Weißt du, was aus deiner Tochter wurde?«
»Ich glaube, das Mädchen ist jung gestorben. Ich hatte nie Verbindung zu ihr oder ihrer Mutter.
Das müsstest du eigentlich verstehen. Sie hat mich wegen Vergewaltigung angezeigt!«
»Gibt es nicht in deiner Familie viele Kinder, die früh gestorben sind?«, fragte Einar.
»Wovon redest du eigentlich?«
»Sind Kinder in deiner Familie gestorben?«
»Was ist hier eigentlich los?«
»Ich weiß von einigen Fällen in diesem Jahrhundert. Einer davon war deine Schwester.«
Holberg starrte Einar an.
»Was weißt du über meine Familie? Woher
…?«
»Dein Bruder. Zwanzig Jahre älter als du. Ist vor etwa fünfzehn Jahren gestorben. Verlor seine kleine Tochter 1941. Du warst elf Jahre alt. Ihr wart nur zwei Brüder, zwischen euch war ein großer Altersunterschied.«
Holberg schwieg weiterhin, und Einar fuhr fort.
»Die Krankheit hätte mit dir verschwinden sollen. Du hättest der letzte Erbträger sein sollen. Du warst der letzte in der Reihe.
Unverheiratet. Kinderlos. Keine Familie. Aber du widerliches Schwein hast vergewaltigt. Vergewaltigt!«
Einar machte eine Pause und schaute Holberg hasserfüllt an.
»Und
jetzt bin ich der letzte Erbträger.«
»Wovon sprichst du eigentlich?«
»Auður bekam diese Krankheit von dir. Meine Tochter bekam sie von mir. So einfach ist das. Ich habe das al les in der Datenbank herausgefu nden. In dieser Familie sind keine Fälle dieser Art mehr aufgetreten, seit Auður gestorben ist, sieht man von meiner Tochter ab. Wir sind die letzten.«
Einar trat einen Schritt näher, griff nach dem schweren Aschenbecher und wog ihn in der Hand.
»Und
jetzt soll es enden«, sagte er.
»Ich bin nicht mit dem Vorsatz zu ihm gegangen, ihn zu töten«, sagte Einar. »Er muss sich aber in großer Gefahr gewähnt haben. Ich weiß nicht, warum ich den Aschenbecher genommen habe. Vielleicht wollte ich damit nach ihm werfen. Vielleicht wollte ich ihn angreifen. Er kam mir zuvor. Griff mich an und packte mich am Hals, aber ich schlug ihm
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