Norderney-Bunker
der Doktor ihm mindestens einen Liter Blut abgezapft, auf der Brust und auf dem Rücken herumgehämmert, als ob er ihn verprügeln wollte, und beim stundenlangen Abhören permanent dazu gezwungen, die Luft anzuhalten und langsam aus- und einzuatmen. Doch damit nicht genug: Gents Hausarzt, mit dem er vor 45 Jahren schon gemeinsam die Schulbank im altehrwürdigen Lern-Tempel an der Jann-Berghaus-Straße gedrückt hatte, beschimpfte ihn unaufhörlich und drohte ihm übelste Konsequenzen an:
„Es ist ja in Ordnung, wenn du nicht mehr rauchst. Aber wenn du nicht dafür sorgst, dass deine Wampe verschwindet, dann kippst du irgendwann kopfüber aus deinem Büro und landest mitsamt deinem dicken Bauch auf dem Onnen-Visser-Platz.“
Sein Schulfreund hatte ihm außerdem Herzinfarkt, Schlaganfall, Atemnot, Impotenz und Verkalkung beziehungsweise alles gleichzeitig angedroht für den Fall, dass er jetzt nicht sofort mit einer Ernährungsumstellung und einem soliden Sportprogramm anfangen würde. Kalter Schweiß also war Gent auf die Stirn getreten, als er zu seinem Hausarzt durchgestellt wurde. Als der ihm dann eröffnete, dass auch sein Kollege der Meinung sei, dass er keinen Herzinfarkt erlitten habe und er wohl noch einmal mit einem blauen Augen davongekommen sei, musste Gent ein kleines Tränchen verdrücken – so groß war die Erleichterung ob des Befundes, der ihm eine zweite Chance gab.
Diesen Gedanken im Hinterkopf, fiel es ihm nun gleich leichter, einen kräftigen Schluck vom ungezuckerten Früchtetee zu nehmen, den Frauke gleich neben dem Teller mit den Apfelstückchen vor die kleine Keramikschale mit den Haferflocken positioniert hatte. Gent musste schlucken. Dann lächelte er sichtlich gerührt, nahm Fraukes Hand und sagte: „Ich liebe dich.“
Der Morgen hätte einen durchaus mehr als nur romantischen Verlauf nehmen können, hätte nicht Gents Handy unvermittelt Alarm geschlagen. „Help, I need somebody“ von den Beatles plärrte durch die Küche und sowohl Frauke als auch Gent wussten: Das war Neumann. Vissers Kollege, mit dem er schon seit mehr als zehn Jahren überaus vertrauensvoll zusammenarbeitete, bekam kaum einen Ton heraus. Er stotterte sich zunächst nur immer wieder einen Satzanfang zusammen, machte dann eine Sprechpause, so dass Gent stets aufs Neue ins Handy rufen musste:
„Neumann, was ist los, bist du noch da? Wo bist du überhaupt?“
Endlich bekam Neumann sich in den Griff: „Gent, du musst sofort kommen. Es ist etwas Schreckliches passiert.“
„Wo bist du?“
„Auf dem Januskopf .“
„Wo auf dem Januskopf ?“
„Auf der Minigolfanlage.“
„Was ist denn passiert, Neumann? Los, sprich!“
Dann knisterte es in der Leitung. Das Gespräch war beendet. Gent stand vom Frühstückstisch auf, nahm noch einen Schluck Tee und drückte seiner Frauke einen Kuss auf die Wange. Dann schwang er sich aufs Rad und strampelte los.
* * *
Lübbert und Winnetou hatten die Nacht gemeinsam in Winnetous Hotelzimmer verbracht. Es war ihnen problemlos gelungen, Lübbert am Abend dort einzuschleusen. Geld für eine eigene Übernachtung hätte er ohnehin nicht mehr besessen. Und da Lübbert ja irgendwo bleiben musste, zumal die letzte Fähre die Insel schon längst verlassen hatte, blieb ihnen nichts anders übrig, als auf diese Lösung zurückzugreifen.
Der Livrierte am Empfang war gerade mit einer Kollegin anderweitig beschäftigt, als sie den günstigen Moment nutzten, um an der Rezeption vorbeizuhuschen. Geschlafen hatten sie allerdings kaum. Besonders Lübbert steckte die Nacht noch in den Knochen. Einmal abgesehen davon, dass sie von ihrem Auftritt bei Onno Aden noch gewaltig aufgedreht waren und die Lage bis tief in die Nacht beraten hatten, musste Lübbert im Sessel schlafen. Der war zwar weich und bequem, aber immer wieder wachte er auf, weil er sich wegen seines steifen Nackens schütteln und dehnen musste.
Nun saßen sie am Westbadestrand. Dort war am frühen Morgen noch nichts los, die Touristen schliefen noch oder aber sie saßen gemütlich in ihren Hotels, Pensionen oder Ferienwohnungen beim Frühstück. So wie Lübbert und Winnetou in einem Strandkorb, und dies an einem ebenso kraftvollen wie verheißungsvollen Morgen in einem kleinen Urlaubsparadies. Besser konnte es nicht sein.
Lübbert hatte das Hotel bereits um kurz nach sieben Uhr verlassen, ohne nach links oder rechts zu schauen. Bloß nicht auffallen, keine unnötigen Fragen beantworten müssen, lautete die Devise.
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