Norderney-Bunker
Sie haben sie mir damals weggenommen. Ich hatte keine Chance. Nun sind sie nahezu erwachsen. Ich bringe es nicht übers Herz, ihnen so, wie ich jetzt bin, wie ich existiere, besser gesagt – vegetiere, gegenüberzutreten.“
Lübbert schwieg. Nun blickte auch er hinaus aufs Meer. Die junge Joggerin, die am Spülsaum entlang Richtung Hafen lief, nahm er nicht wirklich wahr. Er schien geistig komplett abwesend zu sein. Dann strich er sich mit der Hand über die unrasierte Wange und schaute Winnetou an, der sich in die äußerste Ecke des Strandkorbs gekauert hatte. Seine Augen waren geschlossen, der Wind ließ seine Haare immer wieder nervös gegen den Bezug des Strandkorbs flattern. Mit dem Daumen strich er sich eine Träne aus dem Gesicht.
Dann legte Lübbert Winnetou die rechte Pranke aufs Knie und sagte: „Bald ist alles gut, bald kannst du deine Kinder sehen. Ich verspreche es dir.“
Die achtzehnte Bahn
Völlig außer Puste erreichte Visser den Januskopf. Die letzten hundert Meter hatte er sein Rad gegen den Wind durch die aufsteigende, immer schmaler werdende Mündung der Knyphausenstraße schieben müssen. Sein Hals brannte, sein Herz schlug fest, aber rhythmisch. Das beruhigte ihn. Ansonsten war er froh, dass es noch so früh am Tag war. Um kurz vor Acht verirrten sich nur wenige Touristen auf den Januskopf. In einer oder zwei Stunden wird hier allerdings Hochbetrieb herrschen, wir müssen also Gas geben, überlegte Visser.
Am Eingang des Minigolfplatzes empfing ihn sein Kollege Neumann. Er war mit dem blau-silbernen Dienstwagen über die obere Promenade zum Tatort gefahren. Seine Dienstmütze hatte er aufgrund des ungestümen Wetters im Auto liegen gelassen. Seine dünnen, braunen Haare wirbelten durch die Luft. Er drückte das Absperrband zum Minigolfplatz mit dem Unterarm hoch, damit Visser ungehindert eintreten konnte. Neumann zeigte nach links und sagte: „Das ist Bahn achtzehn.“
„Das sehe ich“, hechelte Visser.
„Die spielt man normalerweise mit einem Schlag. Zwei kleine Rampen und am Ende der Kübel mit Sand. Wenn man nicht zu fest schlägt, schafft man das.“
Visser schaute Neumann von der Seite an und schüttelte verständnislos den Kopf. Immer noch ein wenig außer Atem, sagte er: „Und weil da jetzt ein Toter der Länge nach auf dem Hindernis liegt, braucht man zwei oder drei Schläge.“
Neumann senkte den Kopf und schwieg. Als Visser endlich in der Lage war, sich nach dem Toten zu bücken, zog Neumann das Tuch von der Leiche. Visser war zuvor, nachdem er den Reißverschluss seiner Lederjacke geöffnet hatte, in die Hocke gegangen. Ekel und Abscheu signalisierend zog er den Kopf zunächst ein wenig zurück, dann ging sein Atem wieder ganz normal. „Onno Aden. Wer hätte gedacht, dass der einmal eines unnatürlichen Todes sterben würde?“
„Ich“, rief Neumann von der Seite. Da er an Gents Blick erkannte, dass ihm ein neuerlicher Fauxpas unterlaufen war, räusperte er sich und trat einen Schritt zurück.
„Wer hat ihn gefunden?“, wollte Gent wissen.
„Ein Jogger. Einer aus der Kurklinik.“
„Wo ist der jetzt?“
„Er sitzt auf der Wache. Die Jungs von Promedica sind bei ihm. Die mussten ihm eine Spritze geben. Die Aufregung.“
„Was hat der denn auf dem Minigolfplatz gemacht? Wenn man hier vorbeiläuft, kann man diese Bahn gar nicht einsehen. Das ist unmöglich. Es sei denn, der joggende Kurgast misst mehr als zwei Meter.“
„Das habe ich ihn auch gefragt.“
Gent hob jetzt die Stimme. Am liebsten hätte er seinen Kollegen an den Haaren durch den vom Wind gepeitschten Strandhafer gezogen – so ging der ihm mittlerweile auf den Zeiger.
„Und was hat er gesagt? Verdammt! Muss ich dir denn heute wirklich die Rosinen einzeln aus der Nase ziehen?“
„Er musste mal. Du weißt schon. Für kleine Jungs.“
Gent verzog den Mund und hob eine Augenbraue zum Zeichen seiner Belustigung.
Neumann blieb todernst: „Na ja, der Herr Weiland ist nicht mehr der Jüngste. Auch schon über Sechzig.“
„Also so in deinem Alter“, stöhnte Gent. Dann wuchtete er seinen Körper wieder nach oben, indem er sich mit der geballten Faust am Boden abstieß und in Richtung Neumann sagte: „Wahrscheinlich hast du dann die Gelegenheit beim Schopfe gefasst, um dich mit dem Herrn Leichenfinder gründlich über das Thema streikende Prostata bei Männern Anfang Sechzig unter Berücksichtigung des Klimawandels im Weltnaturerbe Wattenmeer auszutauschen?“
Neumanns Blick ging
Weitere Kostenlose Bücher