Norderney-Bunker
Winnetou war unterdessen guten Mutes zum Frühstücksbuffet geeilt. Dort schaufelte er seinen Teller randvoll, schmierte sich zum Schein ein Brötchen, in das er drei, viermal biss, während er – noch allein im Frühstücksraum – fünf weitere Brötchen, vier Scheiben Brot, einen Packen Butterkäse von der gefühlten Dicke eines Ziegelsteins und eine ebenso große Menge Aufschnitt in den Jackentaschen verschwinden ließ. Dann nahm er zwei Servietten. Mit diesen wickelte er den aufgeschnittenen Camembert ein, den er in die linke Hosentasche schob. In die rechte ließ er zwei Frühstückseier rutschen. Das fand er angenehm warm.
„Hast du kein Salz dabei?“, fragte Lübbert, als sie gemeinsam im Strandkorb saßen und er sein Ei pellte.
„Sonst noch einen Wunsch? Ich setze mein Leben aufs Spiel, nur damit du zu einem vernünftigen Frühstück kommst, und dann hat der feine Herr auch noch Extrawünsche“.
„War ja nicht so gemeint“, gab Lübbert mit reichlich vollem Mund zurück. Winnetou nahm sein mittlerweile drittes Brötchen in die Hände und brach es mit den Daumen auf. Dann stopfte er drei Scheiben Butterkäse zwischen die Hälften und drückte diese mit den Handflächen zusammen. Im Inselhotel König hätte das aus dem herzhaften Biss resultierende Geräusch alle Gäste im Frühstückraum aufhorchen lassen. Doch hier am Strand ging das Knacken, Malmen und Bersten unter im Tosen der Brandung, die angesichts des auflaufenden Wassers immer lebhafter wurde. Winnetou aß sein Brötchen ungeachtet der nun auch immer stärker werdenden Böen weiter, während sein Blick mit zur Hälfte zugekniffenen Augen nachdenklich über die Wellen strich. Auch Lübbert schwieg. Er hatte sich über den Camembert hergemacht, den er mit spitzen Fingern aus der Serviette pulte und sich jenseits aller gängigen Benimmregeln und ohne zu zögern in den Mund stopfte.
„Ich glaube immer noch, dass wir gestern Abend eine Spur zu brutal vorgegangen sind“, sagte Winnetou, als er den letzten Bissen verdrückt hatte.
„Sei nicht so ängstlich, Häuptling. Was glaubst du, wie oft der in seinem Etablissement in Köln schon ne Abreibung bekommen hat. Der ist Schläge gewöhnt.“
Winnetou schaute fragend und verzog den Mund.
„Glaub mir, Apache. Der kann nicht nur austeilen, der kann auch einstecken. Das war eine gute Warnung gestern Abend. Der arrogante Sack weiß jetzt, wie meine Fäuste riechen.“
Winnetou stützte den Kopf in beide Hände. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Irgendetwas bedrückte ihn heute Morgen. Lübbert spürte das. Er wusste zunächst nicht, wie er reagieren sollte. Dann legte er den Arm über Winnetous Schultern, schüttelte ihn sanft und hielt einen Augenblick inne. Dann hob er wieder an: „Kannst mir wirklich glauben. Das Geschäft läuft so. Heute Abend nach Sonnenuntergang gehen wir zu ihm hin. Der wird keine Faxen machen. Ich bin sicher, dass er uns einen Umschlag – vermutlich sogar aus Büttenpapier – mit der Kohle drin überreichen wird – und vergessen ist die ganze Sache für ihn. Glaubst du, der möchte einen Skandal? Wenn wir rausposaunen, was der früher getrieben hat, dann ist der hier durch. Das hier ist eine Insel. Ein Bierdeckel. Hier kennt jeder jeden. Der kriegt hier kein Bein mehr auf den Grund. Die jagen den mit der nächsten Fähre aufs Festland.“
Lübbert sah Winnetou genau an, dass es ihm kaum gelang, ihn zu überzeugen. War es das schlechte Gewissen, das den Häuptling in die Depression trieb?, überlegte Lübbert und unternahm einen weiteren Versuch: „Hey, Junge. Jetzt nicht aufgeben. Wir sind fast am Ziel.“
Winnetou nahm einen kräftigen Zug an der Zigarette. Der Wind blies ihm ein paar Papier- und Tabakfunken ins Gesicht. Er wischte sich mit den Handrücken über die Wange und verzog das Gesicht zur Fratze.
„Wenn ich dieses elende Straßenmusikantendasein nicht so leid wäre, dann würde ich jetzt hier die Fliege machen und mich wieder gemütlich in die Auricher Fußgängerzone setzen. Ich weiß einfach nicht, wie ich wieder auf die Beine kommen soll.“
„Ich weiß nicht, was du meinst“, brummte Lübbert, der sich nun ebenfalls eine Zigarette anzündete.
Winnetou senkte die Stimme, so dass Lübbert nahe an ihn heranrücken musste, um ihn zu verstehen. „Mit 25 000 Euro komme ich weit. Dieses Geld würde mir die Möglichkeit geben, von vorn anzufangen, mich komplett neu aufzustellen. Noch ist es früh genug. Ich möchte endlich meine Kinder sehen.
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