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Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Titel: Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allen Frances
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wohlwollenden und humanen Methoden, ohne übernatürliche Scheuklappen, beikommen musste.
    Der Koran fordert die Gläubigen auf, die psychisch Kranken respektvoll zu behandeln: »Und gebt den Schwachsinnigen nicht euer Gut, das Allah euch zum Unterhalt anvertraut hat; sondern nährt sie damit und kleidet sie und sprecht Worte der Güte zu ihnen.« 10 Dieses Gebot führte zu einer völlig säkularen, aufgeklärten, klinischen Herangehensweise: Geisteskranke kamen in die Obhut von Krankenhäusern, deren Aufgabe auch darin bestand, ihre Probleme zu dokumentieren und zu verstehen. Das erste eigens für psychisch Kranke errichtete Spital öffnete 705 in Bagdad seine Tore; Kairo folgte im Jahr 800, und bald schlossen sich viele andere Großstädte dem Beispiel an. Muslimische Krankenhäuser beschäftigten häufig jüdische und christliche Ärzte und betrieben darüber hinaus Ambulanzen und Apotheken.
    Der Fortschritt der Psychiatrie war erstaunlich und nahm exakt die gleichen Schritte vorweg, die tausend Jahre später in Europa erfolgten, als endlich auch dort eigene Anstalten für Geisteskranke eingerichtet wurden. Die psychiatrische Klinik war eine wunderbare Stätte für wissenschaftliche Entdeckung. Die psychiatrischen Fachärzte erlebten im täglichen Umgang ein breites Spektrum unterschiedlichster Patienten und konnten ihre Entwicklung über die Jahre verfolgen. Sie machten akkurate klinische Beobachtungen, ordneten Symptome zu Syndromen und entwickelten wirksame therapeutische Ansätze. Die arabische Psychiatrie erreichte ein Niveau an detailliertem Wissen und praktischen Kenntnissen, das bis dahin weltweit einmalig war.
    So entdeckungsfreudig wie ihre Kollegen im Westen erst während des 19.   Jahrhunderts unter ähnlichen Umständen, erarbeiteten die arabischen Ärzte eine Vielzahl psychiatrischer Klassifikationen. Sie verfassten eine brauchbare Beschreibung psychischer Störungen, die einem modernen DSM durchaus ebenbürtig war. Sie unterteilten ein Krankheitsbild je nach Schweregrad in unterschiedliche Stufen, die den späteren Konzepten der Neurosen und Psychosen vergleichbar waren. Depression beschrieben sie in einer endogenen, einer reaktiven, einer erregten und einer involutiven Form. Sie lieferten gute Beschreibungen von Manie, Delirium, Schwachsinn, Epilepsie, Meningitis und Schlaganfall. Illusionen, Halluzinationen, verschrobenes Verhalten und verminderte Urteilskraft fassten sie zu einem der Schizophrenie ähnlichen Symptomenkreis zusammen, und sie beschrieben Phobien, fixe Ideen, Zwänge, Impotenz, Schlafstörungen, Hypochondrie und Liebesleid als jeweils eigene Beschwerden. Offensichtlich waren die wesentlichen psychiatrischen Störungen über die Jahrhunderte hinweg stabil – auch wenn Moden kommen und gehen.
    Sorgfältige Gehirnsektionen widerlegten unterdessen manche Behauptung Galens und deckten die Nerven- und Gefäßsysteme des Gehirns auf, es wurden sogar verschiedene Gehirnregionen für die Sinneswahrnehmung lokalisiert. So war zum Beispiel bekannt, dass der Frontallappen der Sitz des Denkens und der Vernunft ist und dass bei Schwachsinn die Hirnventrikel sich erweitern.
    Dank dem gesammelten Wissen aus der kognitiven Psychologie, Wahrnehmung, Psychotherapie und Gehirnforschung nahm die arabische Psychiatrie die ganzheitliche und respektvolle Behandlung psychisch Kranker vorweg, zu der Europa erst tausend Jahre später fand. Während im Westen die Patienten gegeißelt, gefoltert und verbrannt wurden, kamen Patienten im Osten in den Genuss kluger Beratung, kognitiver Psychotherapie und Traumdeutung, sie wurden mit Arzneien, Bädern, Musik und Arbeitstherapie behandelt. In der arabischen Medizin waren geistige und körperliche Gesundheit eng miteinander verflochten; die eine konnte die andere bedingen. 11
    Sydenham sieht Syndrome
    Thomas Sydenham, der »europäische Hippokrates«, der im England des 17.   Jahrhunderts unter Cromwell an der Schwelle der Aufklärung lebte, entdeckte die naturgeschichtliche Medizin und Psychiatrie wieder neu – ohne Dämonen, ohne Dogmen, ohne teuflisch gefährliche Behandlungen. Was Krankheit ist, lernen wir von den Patienten, nicht von der Theorie oder der Philosophie, geschweige denn von religiösen Lehren; das war ihm schon sehr früh klar: Man müsse sich ans Krankenbett begeben, denn nur dort, in der Praxis und am Patienten, könne man lernen. Mit seinem Freund, dem Philosophen John Locke, entwickelte er eine empirische, atheoretische Methode des

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