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Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Titel: Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allen Frances
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vorgesehen: Das Ziel war Verwahrung und Fürsorge, nicht Diagnose oder Heilung. Aber nach dem Scheiterhaufen war dies ein gewaltiger Fortschritt.
    Die naturalistische, biologische Sicht war unterdessen aber nicht völlig von der Bildfläche verschwunden. In den Klöstern hatte die Humoralpathologie immer einen Fuß in der Tür, und in der Zeit der Kreuzzüge, als die ungehobelten abendländischen Invasoren mit der zumal in medizinischer Hinsicht viel fortschrittlicheren Zivilisation der muslimischen Welt zusammentrafen, erlebte sie geradezu eine Renaissance. Galens Schriften, längst ins Arabische übersetzt, wurden nun vom Arabischen ins Lateinische übertragen. Nach und nach schwand die Bedeutung der Klöster als Zentren der Gelehrsamkeit, an ihre Stelle traten die städtischen Universitäten, jede Hochschule richtete eine medizinische Fakultät ein, deren naturalistische Betrachtungsweise die in der theologischen Fakultät immer noch betriebene Dämonologie bis zu einem gewissen Grad wieder wettmachte. Ehe man von einer Besessenheit ausgehen könne, lehrten die Medizinprofessoren, müssten natürliche, humorale Ursachen von Wahnsinn erst einmal ausgeschlossen werden. Leider war ihr praktischer Einfluss gering. Die Medizin wurde nur theoretisch unterrichtet, und ihre Lehrer waren Gelehrte im Elfenbeinturm, die sich zwar auf die Autorität Galens beriefen, aber keine Patienten hatten. Ohne eigenen Augenschein war es ihnen unmöglich, die klinische, wissenschaftliche Erforschung der Geisteskrankheiten zu beeinflussen, geschweige denn voranzutreiben – tatsächlich verkehrte sich manchmal der naturalistische Ansatz der Medizinprofessoren in sein Gegenteil, sodass die Gelehrten über die Physiologie der Besessenheit und ihre Auswirkungen auf die geistige Gesundheit dozierten. Ein interessanter Nebeneffekt der Galenschen Renaissance war ein dramatischer Anstieg der Preise für die Gewürze, die aus dem Morgenland importiert werden mussten und als besonders hilfreiche Arzneien zur Regulierung des Säftegleichgewichts galten.
    Selbst in einer Zeit tiefsten Aberglaubens starben Vernunft und Menschlichkeit nicht völlig aus. Nicht jedes Problem wurde dämonisiert, nicht jeder Patient gequält. Gelegentlich wurden auch andere Faktoren – Übermaß an Arbeit, Völlerei, Wollust, Gram – als Krankheitsursachen in Betracht gezogen und verlangten nach vernünftiger Behandlung durch Verhaltensänderung, Gebete, Wallfahrten, Rituale und Amulette. Viele erlebten »Wunderheilungen«. Und ein Exorzismus war nicht zwangsläufig traumatisch oder tödlich, sondern – wenn nicht der Betroffene, sondern ein Abbild des Teufels geschlagen wurde – manchmal einfach symbolisch.
    Die Araber erfinden die moderne Psychiatrie
 (ca. 700 bis 1500) 
    Bevor die arabische Welt vor fünfhundert Jahren ihrerseits in ein dunkles Zeitalter eintrat, war sie die unumstrittene Hochburg des Wissens und des Fortschritts. Der Islam nahm anfangs die Wunder wissenschaftlicher Entdeckung als Weg zu Allah und seinen Absichten mit Begeisterung an. Heutige fundamentalistische Koraninterpretationen leugnen die geistige Freiheit, die doch seit jeher fester Bestandteil des Islams und seit der Zeit Mohammeds auch vorherrschend war, bis im 16.   Jahrhundert die arabische Macht zu schwinden begann und die Geistlichkeit die Macht übernahm. Die Araber waren weltweit die Ersten, die sich auf die quantitative experimentelle Wissenschaft verlegten, wobei ihnen ihr komfortables Zahlensystem (inzwischen auch unseres) entgegenkam: was für eine Erleichterung nach der Mühsal des Rechnens mit den römischen Zahlen! Sie erfanden die Algebra, die sphärische Geometrie und die Trigonometrie. Sie übernahmen und bewahrten die größten Entdeckungen und Erkenntnisse der griechischen, indischen und persischen Wissenschaft und entwickelten sie mit eigener Genialität weiter.
    Nebenbei erfanden die Araber auch die Psychiatrie als Disziplin und den Psychiater als eigenen Berufsstand, und sie brachten die Psychiatrie sowohl in der Diagnose als auch in der Therapie und der Theorie auf ein Niveau, das Europa erst weit im 19.   Jahrhundert erreichte. Warum die Araber? Weil der Koran eine aufgeklärte Sicht von psychischer Krankheit vertritt, die nichts von der entwertenden Dämonologie der jüdisch-christlichen und der griechisch-römischen Tradition weiß – keine bösen Geister und keine eifersüchtigen Götter. Geisteskrankheiten waren ein praktisches Problem, dem man mit

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