Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
Hinrichtung erforderlich; Gott wollte es so. In milderen Fällen war eine Genesung möglich, aber nur nach umfassendem Sündenbekenntnis und Rückkehr in den Schoß der Kirche. Die wissenschaftliche Beobachtung der alten Griechen war einem bizarren System spiritueller Diagnose gewichen, die eine Hierarchie von Teufeln mit verschiedenen Geisteszuständen in Verbindung brachte. Ein Sargtuch religiösen Irrglaubens hatte sich über den Kontinent gelegt, der im Umgang mit seinen schwächsten Mitbürgern engherzige Grausamkeit an den Tag legte. 8
Nicht einmal der Tod schützte die psychisch Kranken vor fortgesetzter Erniedrigung. Nach kanonischem Recht war Selbstmord ein Verbrechen, zu dem der Teufel aus Gehässigkeit gegen Gott angestiftet hatte, und daher musste auch der Leichnam der Strafe unterzogen werden, die aus Galgen, Folter, Verstümmelung oder Durch-die-Straßen-Schleifen bestand. Derjenige, dessen Selbstmordversuch nicht gelungen war, durfte davon ausgehen, dass ihm sein Todeswunsch durch abergläubische Nachbarn erfüllt wurde, häufig auf grausamste Art, damit sie sichergehen konnten, dass die in den Ärmsten gefahrenen Teufel die gerechte Strafe erlitten. Das Verbot, einen Selbstmörder in geweihter Erde zu bestatten, verlängerte die Strafe bis in alle Ewigkeit.
Der Hexenhammer ( Malleus maleficarum ), erstmals veröffentlicht 1486, stellte klare Regeln für die Erkennung und Bekämpfung von Hexen und sonstigen Dämonen auf und lieferte die Rechtfertigung und juristische Handhabe für die Verfolgung nicht nur vermeintlicher oder als solche bezichtigter Hexen, sondern auch der psychisch Kranken. 9 Die Wahnsinnigen wurden von Gott und dem Menschen als Hexen und Dämonen verurteilt, verdienten keine Gnade und erhielten auch keine (mit wenigen Ausnahmen), sondern wurden mit brutaler Effizienz und unmenschlichen bürokratischen Methoden ausgemerzt.
In aufgeklärteren religiösen Kreisen trat als Diagnose der Wahl nach und nach die Sünde an die Stelle der Besessenheit. Unliebsame Verhaltensweisen galten als äußere Anzeichen eines ungebärdigen, gierigen, lasterhaften, überhaupt unchristlichen Charakters: Der psychisch Kranke war vom Dämon zum Sünder aufgestiegen. Sein Verhalten verriet nicht mehr unmittelbar die Handschrift des Teufels, sondern war seine eigene Entscheidung: Ausdruck ungehemmter und unsittlicher Willensfreiheit. Darin unterschied er sich kaum vom gewöhnlichen Verbrecher, sodass sich eine gemeinsame Verwahrung anbot. Harte Behandlung war angeraten, um die psychisch Kranken auf den rechten Weg gezügelter Leidenschaften und bereuter Sünden zurückzuführen. Sie mussten an die Kandare genommen, gezügelt und gebändigt werden, und weil sündige Naturen per se eingefleischt und verstockt waren, bestand die Behandlung zum kleineren Teil aus moralischen Appellen, zum größeren aber aus körperlicher Züchtigung. Zwar gab es den Versuch, das sittliche Leben psychisch Kranker zu verbessern und sie zu Ordnung, Selbstbeherrschung und Mäßigung anzuhalten, um sie von der Sünde ab- und Gott näher zu bringen, doch beim wirklich störrischen Sünder, der auch unter wohlmeinender Anleitung jede Besserung verweigerte, galt es streng durchzugreifen, denn wer sein Schäfchen liebt, der züchtigt es. Und weil die Krankheit mitsamt dem Stolz, der sie verursacht hatte, bezwungen werden musste, lernte der sündige Geist nur durch Zucht des Leibes – und die erfolgte durch Auspeitschung, Drehstuhlbehandlung, Schockkuren wie Eintauchen in eiskaltes Wasser und so weiter: extreme Strafen nach heutigen Maßstäben, aber in ihrer Grausamkeit nicht so enthemmt, in ihrer Wirkung nicht so tödlich wie in der Zeit, als sie sich gegen den Leibhaftigen oder seine Handlanger richteten. Die Folterwerkzeuge der Inquisition wurden nicht mehr angewandt und die Wahnsinnigen nicht mehr durch Feuer geläutert: Sie galten als böse Menschen und wurden als solche behandelt – aber immerhin waren sie keine Verkörperung des Teufels mehr.
Natürlich gab es nicht zu unterschätzende Ausnahmen bei der Behandlung der Irren. Im 13. Jahrhundert wurden viele Spitäler in Klöstern und, entlang des Weges ins heilige Land oder zu den Pilgerstätten, Hospize gegründet. Dort erhielten die Irren, die Kranken, die Leprösen, Waisen und Armen Obdach, Verpflegung, Gebet und christliche Nächstenliebe von Mönchen und Nonnen. Therapiert wurde so gut wie nicht, wissenschaftliche Beobachtung und klinische Diagnostik waren ohnehin nicht
Weitere Kostenlose Bücher