Northanger Abbey
zweiten oder spätestens der dritten Nacht dort bricht auf jeden Fall ein furchtbares Unwetter los. Donnerschläge, so laut, daß sie das alte Gemäuer in seinen Grundfesten zu erschüttern scheinen, wälzen sich zwischen den Bergwänden – und bei den entsetzlichen Sturmböen, die sie begleiten, ist Ihnen, als sähen Sie (denn Ihre Lampe brennt noch) einen Teil des Gobelins heftiger schwanken als den Rest. Da sich kein günstigerer Moment denken ließe, Ihrer Neugierde nachzugeben, erheben Sie sich selbstredend unverzüglich, und indem Sie sich Ihren Morgenmantel überwerfen, schreiten Sie zur Aufklärung dieses Rätsels. Nach sehr kurzer Suche entdecken Sie einen Spalt in dem Wandbehang, der so kunstreich verborgen ist, daß ihn ein menschliches Auge eigentlich nicht auszumachen vermag; kaum schlagen Sie ihn zur Seite, wird dahinter eine Tür offenbar – welche Sie, da sie lediglich durch gewaltige Eisenstreben und ein Schloß gesichert ist, nach einigen Mühen aufbekommen –, und mit Ihrer Lampe in der Hand treten Sie durch sie hindurch in ein kleines, enges Gewölbe.«
»Nein, ganz bestimmt nicht; ich hätte viel zu viel Angst.«
»Was? Doch nicht, wenn Dorothy Ihnen zu verstehen gegeben hat, daß es einen unterirdischen Geheimgang von Ihrem Gemach zur St.-Antonius-Kapelle gibt, die keine zwei Meilen entfernt liegt! – Könnten Sie vor einem so harmlosen Abenteuer zurückscheuen? Nein, nein, Sie schreiten voran indieses kleine, enge Gewölbe, und dann durch mehrere weitere, ohne in einem davon etwas sonderlich Erwähnenswertes vorzufinden. In einem gewahren Sie möglicherweise einen Dolch, in einem anderen ein paar Blutstropfen, in einem dritten Relikte von irgendeinem Folterwerkzeug; aber da daran nichts in irgendeiner Weise Bemerkenswertes ist und Ihre Lampe nur noch ganz schwach flackert, kehren Sie zurück in Ihr Gemach. Auf dem Rückweg durch das kleine Gewölbe fällt Ihr Blick auf einen großen, altmodischen Dokumentenschrank aus Gold und Ebenholz, der Ihnen, obwohl Sie das Mobiliar genauestens in Augenschein genommen hatten, zuvor entgangen war. Von einer unwiderstehlichen Vorahnung getrieben, nähern Sie sich ihm begierig, öffnen seine Flügeltüren und durchsuchen eine jede Schublade – ohne freilich vorerst irgend etwas von Interesse zu entdecken, außer vielleicht einen ansehnlichen Diamantenschatz. Schließlich jedoch stoßen Sie an eine verborgene Feder, wodurch sich ein Geheimfach öffnet – eine Papierrolle kommt zum Vorschein – Sie greifen danach – vor Ihnen liegen etliche handbeschriebene Seiten – Sie hasten mit dem kostbaren Fund in Ihre Kammer, doch kaum haben Sie die ersten Zeilen entziffert: ›O Fremdling, wer immer Du seist, in dessen Hände die Leidensgeschichte der unseligen Matilda 27 gefallen sein mag‹ – da erlischt Ihre Kerze jählings in ihrer Tülle, und undurchdringliche Finsternis umgibt Sie.«
»Oh, nein, nein, sagen Sie so etwas nicht. – Und wie geht es weiter?«
Aber Henry war zu erheitert von der Anteilnahme, die er geweckt hatte, um seine Geschichte weiterzuspinnen; er konnte den getragenen Duktus nicht länger aufrechterhalten und mußte ihr nahelegen, für die Ausgestaltung von Matildas Leiden doch ihre eigene Phantasie zu bemühen. Darauf kam Catherine zu sich, schämte sich ihres Eifers und begann ihm mit großem Nachdruck zu beteuern, daß sie bei aller Gespanntheit doch nicht die geringste Furcht hege, etwas wiedas von ihm Geschilderte wirklich zu erleben. Miss Tilney, da sei sie ganz sicher, würde sie niemals in ein solches Zimmer stecken, wie er es beschrieben hatte. – Ihr sei kein bißchen bange.
Als das Ende ihrer Reise nahte, kehrte Catherines Ungeduld, der Abtei endlich ansichtig zu werden – von der er sie zwischendurch mit anderen Themen abgelenkt hatte – mit Macht zurück, und hinter jeder Kurve erwartete sie in feierlicher Ehrfurcht die wuchtigen grauen Steinmauern auftauchen zu sehen, hoch aufragend aus einem Hain alter Eichen, dieweil sich in ihren hohen gotischen Fenstern der Glast der sinkenden Sonne brach. Aber das Gebäude stand so tief im Talgrund, daß sie unversehens durch das große Tor beim Pförtnerhaus in den Hof von Northanger Abbey einfuhr, ohne auch nur einen alten Schornstein erspäht zu haben.
Sie wußte, es stand ihr nicht zu, verwundert zu sein, aber es war etwas an dieser Ankunft, mit dem sie ganz und gar nicht gerechnet hatte. Zwischen Torhäusern so moderner Bauart hindurchzufahren, sich so ohne weiteres
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