Northanger Abbey
derhäufigen Abwesenheiten ihres Vaters auch zeitweise ganz ohne Gesellschaft.
»Aber wie kann das sein?« fragte Catherine, »sind denn nicht Sie bei ihr?«
»Northanger ist nur zur Hälfte mein Zuhause; ich habe meinen eigenen Hausstand in meiner Pfarrei in Woodston, fast zwanzig Meilen vom Haus meines Vaters entfernt, und einen Teil der Zeit verbringe ich notwendigerweise dort.«
»Wie schmerzlich das für Sie sein muß!«
»Es schmerzt mich immer, Eleanor alleinzulassen.«
»Ja, aber nicht nur sie fehlt Ihnen doch sicherlich, sondern auch Northanger Abbey! – Da Sie es so gewohnt sind, in einer Abtei zu wohnen, muß Ihnen ein ganz normales Pfarrhaus doch sehr reizlos vorkommen.«
Er lächelte und sagte: »Sie machen sich ein sehr vorteilhaftes Bild von der Abtei.«
»Aber natürlich. Ist sie nicht ein prächtiges altes Bauwerk, geradeso wie im Roman?«
»Ja, sind Sie denn bereit für all die Schrecken, die Sie in einem Bauwerk ›wie im Roman‹ vielleicht erwarten? Haben Sie ein robustes Herz? Nerven, die Geheimtüren und raschelnden Wandbehängen gewachsen sind?«
»Doch, sicher – ich glaube nicht, daß ich mich leicht ängstigen werde, denn es sind ja so viele Leute im Haus – und außerdem war es nie unbewohnt und lag viele Jahre lang verlassen, bevor die Familie plötzlich unangemeldet zurückkommt, wie das in den Büchern immer passiert 24 .«
»Das nicht. Nein, wir werden uns weder durch eine Eingangshalle tasten müssen, die notdürftig von den letzten glimmenden Scheiten eines verlöschenden Kaminfeuers erhellt wird, noch unsere Schlafstatt auf dem Fußboden eines Gelasses ohne Fenster, Türen oder Möbel aufschlagen. Aber Sie wissen hoffentlich, daß jede junge Dame, die es (auf welchem Wege auch immer) in eine Behausung dieser Art verschlägt, zwangsläufig weitab vom Rest der Familie einquartiert wird.Wenn dann die anderen sich gemütlich in ihren Trakt zurückziehen, wird sie von der greisen Haushälterin Dorothy 25 mit großem Pomp eine eigene Treppe hinaufgeleitet und durch lange dunkle Gänge in ein Gemach geführt, in das kein Mensch mehr einen Fuß gesetzt hat, seit darin zwanzig Jahre zuvor irgendeine entfernte Anverwandte verschieden ist. Können Sie eine solche Zeremonie über sich ergehen lassen? Wird Ihnen nicht Fürchterliches schwanen, wenn Sie sich in diesem düsteren Gemach wiederfinden, das für Sie allein viel zu hoch und zu weitläufig ist und dessen Ausmaße Sie in dem schwachen Strahl einer einsamen Lampe nur erahnen können – die Wände behangen mit Gobelins, in die überlebensgroße Gestalten eingewebt sind – das Bett mit seinem dunkelgrünen Wollstoff oder purpurfarbenen Samt gleich einem Totenbett? Wird sich da nicht eine kalte Hand um Ihr Herz schließen 26 ?«
»Oh! Aber so etwas passiert mir ja sicher nicht.«
»Wie furchtsam Sie die Möbel in Ihrem Zimmer beäugen werden! – Und was sehen Sie? – Nicht etwa Tischchen, Toilettentische, Kleiderschränke, Kommoden, nein, auf einer Seite womöglich die Überreste einer zerborstenen Laute und auf der anderen eine mächtige Truhe, die sich trotz aller Mühen nicht öffnen läßt, und über dem Kamin das Konterfei eines stolzen Kriegers, dessen Züge Sie so unerklärlich in ihren Bann ziehen, daß Sie Ihre Blicke nicht losreißen können. Dorothy unterdessen, die von Ihrem Anblick nicht minder gebannt scheint, starrt Sie in großer Erregung an und stößt ein paar unverständliche Andeutungen hervor. Um Ihnen Mut zu machen, läßt sie überdies durchblicken, daß der Flügel der Abtei, den Sie bewohnen, aller Wahrscheinlichkeit nach von einem Gespenst heimgesucht wird, und stellt klar, daß nicht ein einziger Diener in Hörweite von Ihnen schläft. Mit diesem trostreichen Scheidegruß knickst sie und schlurft davon – Sie lauschen ihren verklingenden Schritten, solange noch ein letzter Nachhall an Ihr Ohr dringt –, und als Sie wildpochenden Herzens versuchen, Ihre Tür zu verriegeln, entdecken Sie zu Ihrer Bestürzung, daß sie kein Schloß besitzt.«
»Oh, Mr. Tilney, wie gruslig! – Das klingt fast wie aus einem Buch! – Aber bei mir wird das nicht so sein. Ihre Haushälterin heißt bestimmt gar nicht Dorothy. – Und wie geht es dann weiter?«
»Nun, in der ersten Nacht geschieht vielleicht noch nichts sonderlich Erschreckendes. Nachdem Sie Ihren
unbezähmbaren
Schauder vor dem Bett überwunden haben, begeben Sie sich zur Ruhe, und für ein paar Stunden schlummern Sie sogar ein. Aber in Ihrer
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