Notaufnahme
verschiedenen Kategorien und Themen der Dokumente zu machen.
»Dafür, dass sie eine so logische Frau war, ergibt manches hier herzlich wenig Sinn. Ich habe keine Ahnung, nach welchem System sie ihre Unterlagen abgelegt hat. Sie hat ganze Abteilungen mit Ordnern, auf denen ›Berufsethik‹ steht …«
» Ja, das war einer ihrer Spezialbereiche, Coop. Darüber hat sie auch Vorlesungen gehalten.«
»Okay. Aber zwischen diesen und wiederum anderen, die mit › Regeneratives Gewebe ‹ beschriftet sind, befindet sich ein Ordner mit der Aufschrift ›Met-Spiele‹.«
»Die Gute war ganz offensichtlich ein Met-Fan.«
»Ja, aber Laura Wilkie hätte ihr ganz schön den Marsch geblasen und den Laden auf Vorderman gebracht. Stell dir mal vor: Du suchst deine Baseball-Dauerkarte, und sie steckt irgendwo zwischen Hirngewebe. Und zwei Ordner weiter findest du alle Unterlagen über Laufschuhe und -klamotten. Laura hätte da ganz entschieden klar Schiff gemacht – all das Hirnzeugs in eine Abteilung gesteckt und den Sportkram in eine andere.«
Ich sah nur noch Ordner, Ordner, Ordner. Ich hatte mir ein Bild von Gemma Dogen machen wollen, aber all diese Dokumente halfen mir da nicht viel weiter.
Während ich mich aus der Hocke erhob und streckte, fotografierte Mercer die Utensilien, die auf dem Schreibtisch lagen. »Ich mache ein paar Aufnahmen, damit wir später noch wissen, wie wir die Dinge hier vorgefunden haben.«
»Ja, kann nie schaden.«
»Du kannst übrigens jederzeit wieder hierherkommen. Die Miete ist bis April bezahlt, und Peterson will, dass hier nichts verändert wird, solange wir nicht wissen, wer sie beerbt. Und solange wir nicht wissen, ob sie ein gezieltes oder nur ein zufälliges Opfer war.«
Inzwischen dämmerte es. Es war schon nach sechs, und ich wurde eigentlich gerade auf einem kleinen Empfang des Lenox Hill Debs Board erwartet.
Mercer lichtete Gemma Dogens Wohnzimmer aus verschiedenen Perspektiven ab. Im Blitzlicht leuchtete ein kleiner goldener Gegenstand auf, der mir bis dahin in dem schmucklosen Raum entgangen war.
»Nur keine Aufregung, Cooper, es sind sicher keine Juwelen.«
Mercer nahm den etwa dreißig Zentimeter langen, schwarzen Gegenstand aus dem Regal und las die Inschrift vor, die in die bronzene Platte graviert war: Für Gemma Dogen, anläßlich ihrer Aufnahme in den Orden des Goldenen Skalpells. 1. Juni 1985. Fellows of the Royal Infirmary, London, England.
Auf dem Ebenholzsockel thronte ein solides goldenes Chirurgen-Skalpell mit Stahlklinge. Ich betrachtete es näher. »Sie muss eine hervorragende Ärztin gewesen sein, um bereits mit Mitte vierzig eine solche Auszeichnung zu erhalten.« Ich stellte mir gerade die altehrwürdige Aula der Londoner Universität vor, wo eine Versammlung älterer englischer Doktoren mit dicken Brillen und Kneifern der talentierten jungen Frau durch die Verleihung dieser Auszeichnung ihren Respekt erweisen. »Das Ding sieht ziemlich martialisch aus, aber irgendwie schön, findest du nicht auch?«
»Hätte sie es in ihrem Büro aufgestellt, wäre es ihr vielleicht nützlich gewesen. Möglicherweise hätte sie damit ihren Angreifer in die Flucht schlagen können.«
Aber wir beide wussten, dass es keine Waffe war. Es war das Handwerkzeugs einer Frau, die Tausende von Leben gerettet hatte.
Ich stellte es zurück ins Regal und teilte Mercer mit, dass wir gehen konnten. Wir zogen unsere Mäntel an, löschten das Licht, und ich schloss die Tür ab, während Mercer den Aufzug rief.
Um halb sieben verabschiedete ich mich von Mercer. Er setzte mich vor der Julia Richman High School ab, und ich eilte die Treppe hinauf.
Sexualverbrechen waren in den Sechzigern und Siebzigern, als ich aufwuchs, ein Tabuthema gewesen. »Brave Mädchen« - wie etwa unsere Schwestern, unsere Mütter, unsere Töchter und unsere Freundinnen – wurden nicht vergewaltigt. Vergewaltigungsopfer hatten die Tat provoziert, waren selbst Schuld. Und wenn es passierte, wurde das Mäntelchen des Schweigens darübergebreitet. Wenn man nicht darüber sprach, konnte man es vielleicht ungeschehen machen, so hoffte man.
Erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten hatte in diesem Bereich eine tiefgreifende Gesetzesreform stattgefunden – doch Gesetze waren einfacher zu verändern als die öffentliche Meinung.
Deshalb verbrachten die meisten meiner Kollegen und ich eine Menge Zeit damit, Aufklärungsarbeit zu betreiben. Denn die Menschen, die wir zu erreichen versuchten – Angehörige
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