Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Notaufnahme

Notaufnahme

Titel: Notaufnahme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Fairstein
Vom Netzwerk:
dass es ganz normal war, dass die mehr oder weniger neugierigen Nachbarn natürlich ein Auge darauf hatten, welche Leute in der Wohnung einer Toten ein und aus gingen.
    Der Lichtschalter für den Flur befand sich neben der Toilettentür; während ich die Wohnungstür hinter mir zuzog, machte ich Licht.
    Mein Blick wanderte durch die geräumige Wohnung. Das Gebäude stammte aus der Nachkriegszeit, und die Räume waren großzügig geschnitten. Eine Seite der Wohnung war komplett verglast; man hatte einen herrlichen Blick über den East River. Allerdings hingen an diesem Tag die Wolken so tief, dass die Sicht kaum weiter als bis zur Brücke der Neunundfünfzigsten Straße reichte, über die der Verkehr in Richtung La Guardia Airport floss.
    Gemma Dogen verfügte über einen einfachen, sachlichen Geschmack. Die Möbel im Wohnzimmer vermittelten den Eindruck, als stammten sie aus einem der zahlreichen preisgünstigen skandinavischen Einrichtungsgeschäfte. Sie wiesen klare Formen auf; die Bezugstoffe waren in neutralen Farben gehalten und wirkten strapazierfähig. Ich hätte ihr die satten, ausdrucksstarken Farben und die behaglichen, weichen Materialien meiner eigenen Wohnung gewünscht, die mich nach einem langen, harten Arbeitstag willkommen hießen und mir das Entspannen erleichtern.
    Ich hängte meinen Mantel über einen der Esszimmerstühle und betrat den kurzen Flur, der zu ihrem Schlafzimmer führte. An beiden Seiten hingen altmodische britische Reiseposter von Brighton, den Cotswolds und Cambridge.
    Auch das Schlafzimmer wirkte steril. Wenn die Fotos, mit denen sie sich umgab, etwas über sie aussagten, dann dass sie sich in ihrer Rolle innerhalb der akademischen Gesellschaft ausgesprochen wohl fühlte. Die Aufnahmen zeigten sie auf Podien und hinter Rednerpulten; die Flaggen, die auf den Bildern zu sehen waren, verrieten, dass sie sowohl in England als auch in den Vereinigten Staaten zu Hause war. Insgeheim zollte ich der Frau, die sich in einer von Männern beherrschten Domäne einen solche Namen geschaffen hatte, tiefen Respekt.
    Der Wecker auf ihrem Nachttisch ging noch richtig. Ich drückt auf den länglichen Knopf, um zu sehen, wann Gemma Dogens Tag normalerweise begann. 5 Uhr 30 – ich bewunderte die Disziplin, die sie veranlasste, zu einer solchen Zeit aufzustehen – besonders an diesen hässlichen, kalten Märzmorgen –, um vor ihrem Dienst unten am Fluss zu joggen. Die schrille Türklingel riss mich aus meinen Gedanken. Ich öffnete Mercer.
    »Wen erwartest du denn außer mir noch?« wollte er wissen; es amüsierte ihn, dass ich vor dem Öffnen der Tür durch den Spion gelinst hatte.
    »Hat mir meine Mutter so beigebracht, Mercer.« Seitdem ich in Manhattan lebte, also seit über zehn Jahren, spähte ich vor jedem Öffnen der Tür durch das kleine runde Loch. »Als ich hier aufschloss, hat mich übrigens auch jemand beobachtet. Hast du zufällig jemanden gesehen?«
    »Keine Menschenseele, Miss Cooper. Komm schon, Mädchen, keine Angst.«
    »Hast du schon ihren Wecker in Augenschein genommen?«
    »Nicht dass ich wüsste. Gibt’s da was Interessantes?«
    »Nein, nur die Uhrzeit, zu der sie normalerweise aufstand. Zuletzt war der Wecker auf halb sechs gestellt – wir sollten das notieren. Vielleicht hilft es uns, wenn’s darum geht, den Zeitpunkt des Überfalls zu rekonstruieren.«
    »Okay.« Mercer schlug seinen Block auf und kritzelte eine Notiz nieder. »Also: Dein Video-Mensch hat hier drinnen gefilmt, und außerdem haben wir die Spurensicherung durchgescheucht. George Zotos hat sich durch Berge von Akten gewühlt. Es scheint, als hätte Gemma Dogen nicht viel für Unterhaltung und Entspannung übrig gehabt – sie hat das Wohnzimmer eher als Büro genutzt. Die Schrankwand auf der linken Seite ist voll mit Büchern; aber die auf der rechten beherbergt Akten und Unterlagen aus der Klinik. Wir haben alles durchgeschaut, aber lass dir Zeit, ich bleibe so lange wie nötig. Sag Bescheid, wenn du etwas fotografieren möchtest.«
    Ich ging in die Küche. Wie in meiner eigenen waren die Schränke und Regale fast leer. Die Standardutensilien eines gehobeneren Haushalts – Küchenmaschine, Kupfertöpfe, gute Edelstahlmesser und eine italienische Espressomaschine – schienen nur sporadisch in Gebrauch gewesen zu sein. Diese Seite von Gemma Dogen kam mir bekannter vor.
    »Auch die Küche haben wir durchkämmt, Coop. Zotos hat den Inhalt des Kühlschranks notiert und das Zeug anschließend entsorgt.

Weitere Kostenlose Bücher