Notizen einer Verlorenen
zusammen dort gelandet war. Ich holte den Schlafsack heraus und kroch hinein. Aus den Untiefen der Rucksacktaschen kramte ich nach etwas, auf dem ich schreiben konnte und ich fand dieses rote Notizbuch in einer Seitentasche, in welchem ich bisher nur wenige Seiten beschrieben hatte, nichts Wichtiges, nur ein paar lyrische Kritzeleien. Ich riss sie heraus.
Dann schrieb ich es auf. Das hier. Die Notizen einer Verlorenen. Die Notizen einer, die schuldig ist. Mit zitterndem Stift, sodass die Schrift überhaupt nicht aussieht, wie meine eigene Schrift, mit Buchstaben, die in den Tränen verlaufen.
Das Grauen in meinem Kopf beginnt. Ich habe keine Tabletten mehr, die es mir erträglich machen könnten, nur noch ein leeres Blister Sumatriptan.
Alex war kein schlechter Mensch. Er war Opfer wie ich, ein gespaltenes Wesen. Nicht alles in ihm wollte mich töten, bestimmt nicht. Er wollte mich auch nicht umbringen, weil er mich hasste, nein, er wollte es in Liebe tun, gemeinsam mit ihm und er wusste auch genau, dass ich meinen Kopf nicht mehr tragen kann.
Alex – ich teile mein Schicksal mit dir. Wir sahen zu, wie Menschen sich das Leben nahmen und unternahmen nichts dagegen, halfen sogar noch nach. Kevin, Patrick und Tim, Leo und Mathilde, Lenger … und Marc, wann wird er zum Opfer werden? Wir sind schuld am Tod vieler Menschen. Und ich bin nicht nur schuld an Jens' Tod, sondern auch an seinen Seelenqualen davor.
Es ist jetzt Morgen und ich war eben noch einmal an dem Flussbett. Du liegst noch immer dort. Deine Augen sind jetzt zu. Die Küsse, unsere Liebe – waren das alles Lügen? Ich glaube das nicht.
Vor mir liegt der Blister mit den leeren Löchern der letzten herausgedrückten Tabletten gegen die Folter in meinem Kopf. Sie haben nicht gereicht. Sie werden niemals reichen. In meinem Kopf ist so vieles, was mich quält. Manuel und Jens sind da drin, die Schuld … und du … du bist da drin. Dieser rebellierende Schädel ist meine ganz persönliche Hölle, wie ich sie anscheinend verdient habe. Sie hämmert mir das Leben weg. War das denn ein Leben? Ich kann nicht mehr. Nein, ich kann nicht mehr.
Wenn ich aus dieser Scheune hinausblicke, sehe ich Manuel vor der Tür stehen und warten. Ich kann hier nicht mehr rausgehen.
Alex, ich komme. Vielleicht ist dein Himmel ja ein Graffiti-Paradies.
Marc
Die Petroleumlampe flackerte schon länger. Nun ging sie aus. Doch inzwischen brach nach der kalten Nacht der ebenso kalte Morgen an. Marc schloss die Augen. Er klappte das rote Notizbuch zu und lehnte sich an die pilzbefallene Scheunenwand. Dann betrachtete er von Weitem Sarahs geplatzten Kopf unter diesem Ofen. Ob sie nun alles aus ihrem Schädel entlassen hatte?
Das Leben ist grausam, der Tod ist süß. Nein, sie sah nicht süß aus. Sie war tot. Grausam zermalmt und er, Marc, hätte das vielleicht verhindern können. Er blickte erneut auf das rote Notizbuch. Notizen einer Verlorenen , was für ein Titel! Buchheim hatte gelogen, der Tod war nicht süß, er war grausam, er stank und nahm nichts von der Schuld einfach mit.
Schwankend nach der durchwachten Nacht stand Marc auf. Er packte Sarahs Buch in seine Jackentasche, nahm einen Reisigbesen von der Wand der Scheune und fegte seine Fußspuren hinter sich fort, während er rückwärts aus dem alten Holzbau schritt. Den Besen nahm er mit und stieg in sein Cabrio ein. Zweihundert Meter weiter hielt er an, stieg aus und verwischte auch die Reifenspuren seines Wagens auf dem Schotterweg. Er war nicht einmal sicher, ob das seine Spuren waren. Dann warf er den Besen tief in ein Gebüsch.
»Adieu, Sarah«, murmelte er mit Blick auf die Scheune und fuhr los, unentschlossen, wohin er sollte. Zurück in sein altes Leben? Konnte er das noch? Wieder in das Haus der Verlorenen , als wäre nichts geschehen? Vor allem fragte er sich, wie er mit Manuel umgehen sollte. Er hatte es ja damals Sarah nicht sagen wollen, weil er von der chaotischen Beziehung zu ihrem Jugendliebhaber vor Jahren wusste. Wenn er ihr gesagt hätte, dass Manuel ein Cousin von Alex war, der seit Jahren im Haus ein und aus ging, würde sie dann heute noch leben?
Marc fühlte eine Mischung aus Wut und Verzweiflung. Er fuhr auf die Autobahn und gab Gas …
Buchheim
Auf dem viel zu grell eingestellten Bildschirm, oben an der Wand, lief eine Kochsendung. Sie hatten den dämlichen Kasten angestellt, obwohl er entschieden dagegen protestiert hatte. Dabei konnte er nicht einmal den Ton hören, weil die Kopfhörer,
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