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Notizen einer Verlorenen

Notizen einer Verlorenen

Titel: Notizen einer Verlorenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Vullriede
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still!«
    Vorsichtig streichelte er mit den Daumen meine Wangen.
    »Es wird ganz schnell gehen. Keine Angst, ich lass dich nicht allein. Wir machen das gemeinsam. Gestern, Sarah, habe ich mein letztes Bild gemalt. Es ist ein Bild von uns beiden. Hörst du? Du hast genauso einen Platz an meiner Seite, wie Jens auf dem Bild daneben! In meinem Herzen ist Platz für euch beide!«
    Dann lehnte er sich zur Seite und griff nach dem Metallrohr. Ich blickte auf den Ofen über uns und holte tief Luft.
    Mit einem Satz sprang ich auf. Alex erschrak. Ohne ihn noch einmal anzusehen, rannte ich los. Aus dem Scheunentor hinaus und irgendwo hin, auf Strümpfen, weil ich meine Schuhe den Hunden überlassen hatte. Den Schmerz der Bisswunde an meinem Knöchel spürte ich nur entfernt. Hinter mir hörte ich Schritte. Der bedeckte Himmel tauchte den Tag in dämmriges Licht und ich wählte den Weg an der Straße entlang. Wenigstens könnte ich so auf Spaziergänger oder Autofahrer treffen. Meine Füße fühlten sich heiß an und wund, aber nicht so, dass ich es nicht ausgehalten hätte. Ich hatte plötzlich das Gefühl, ewig laufen zu können. Die Gegend war hügelig. Sogar bergauf lief ich schnell. Es wurde immer steiler. Neben mir führte eine Böschung ebenso steil nach unten und ich lief direkt an dieser Böschung entlang. Dann ging es wieder bergab und meine Beine liefen schneller. Die klatschenden Geräusche von Schuhen auf dem Schotterweg hinter mir wurden lauter und jetzt hörte ich ein angestrengtes Keuchen in meinem Nacken. Er hat mich eingeholt , dachte ich seltsam furchtlos, Endorphine, sie lassen mich laufen, ohne, dass ich etwas dazu tun muss, aber die Kraft meiner Muskeln reicht trotzdem nicht aus, ihm wegzulaufen.
    Das Schnaufen kam näher. Ich wusste auf einmal nicht mehr, warum ich überhaupt weglief. Wozu lief ich? Mitten im Laufschritt blieb ich stehen, abrupt.
    Alex hatte damit wohl nicht gerechnet und womöglich gerade einen letzten Spurt hingelegt, um mich einzuholen. Mit Wucht prallte er gegen meinen Rücken und stieß mich um. Ich rutschte auf meinen Händen den Weg entlang und sah gerade noch, mit meinem Gesicht nahe am Boden und zur Seite gewandt, wie Alex sich überschlug und mit einem Satz hinter dem Kamm der Böschung verschwand.
    Sekundenlang blieb ich regungslos liegen. Dann kam ich richtig zu mir.
    »Alex?«
    Auf allen Vieren kroch ich zu dem Abhang und starrte nach unten. Es ging erschreckend steil bergab und ganz unten verlief ein steiniges Flussbett. Von Alex fand ich erst keine Spur, bis ich auf einmal seine Beine entdeckte, mit der grauen Jeans, die er heute trug, kaum erkennbar im Dunkeln zwischen den Steinen vor dem Wasser.
    »Alex!« Ich rief es keuchend, aber er antwortete nicht und er rührte sich nicht.
    Ich sah mich um. Niemand, der mir helfen könnte.
    Unsicher stieg ich hinab, mit zerfetzten Strümpfen und blutigen Füßen. Teilweise rutschte ich nach unten, so steil ging es bergab. Mir war nicht bewusst gewesen, dass ich laufend eine solche Höhe bezwungen hatte.
    Dann saß ich vor Alex und er starrte geradeaus, als wollte er den Himmel sehen. Sein Mund war leicht geöffnet und man hätte denken können, dass er gerade etwas unglaublich Interessantes dort entdeckte. Mit seinen schönen blauen Augen und den dichten schwarzen Wimpern. Nur unter ihm, auf dem Felsen, verteilte sich blutrote Farbe wie ein großer gemalter Klecks Graffiti und tropfte immer weiter bis in die ersten Wasserlachen des Flusses hinein. Ein zartes Rinnsal roter Farbe zog wellige Fäden durch das Wasser.
    Mit zwei Fingern drückte ich ihm sanft die Augen zu – ich wollte ihm nicht wehtun. Dann legte ich mich neben ihn auf die harten Steine, lehnte meinen Kopf auf seine Brust und nahm seine schwere schlaffe Hand, damit er mich ein letztes Mal umarmte – zum ersten Mal in völliger Ruhe, ohne dass er vom Tod sprach.
    Heute Abend reden wir mal nicht über den Tod.
    Ich sah nach oben in den Himmel, der sich immer mehr verdunkelte und ich fand nichts als Leere – einsame, stille und tröstende Leere.
    Irgendwann erhob ich mich und küsste ihn auf die Stirn.
    »Tschüss, Alex«, flüsterte ich in sein Gesicht.
    Dann ging ich. Ich ließ ihn liegen, wie damals Jens, kletterte den Abhang hinauf und ging erschöpft zurück zur Scheune. Die Kerze war inzwischen abgebrannt, doch Alex hatte noch einen Vorrat an Kerzen und Cola auf einem Regalbrett deponiert. Auf dem Boden, vor der Leiter, lag noch mein Rucksack, der mit Buchheim

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