Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Notluegen

Notluegen

Titel: Notluegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Swartz
Vom Netzwerk:
Frau hatte das wohl an seiner Miene abgelesen, ihre Augen waren feucht und halb geschlossen, wie es dem Mann schien, aus keinem anderen Grund als aufrichtigem Mitleid.
    Golokor inkrysul (oder etwas Ähnliches), sagte die Frau.
    Dazu wollte sich der Mann nicht äußern. Warum sollte er? Noch immer dachte er an die vorangegangene Nacht: wie diese Frau unter seinen harten Fäusten nachgegeben und wie der Mann sich dann ihren Wünschen gewidmet hatte, von denen einige ihm zunächst fremd, ja, zuwider gewesen waren, aber trotzdem hatte er sich mitlocken lassen, so dass ihre Wünsche bald auch die seinen waren, nur noch wilder und mit stärkerer Muskelkraft, bis ihre gemeinsame Leidenschaft sich so gewaltig gesteigert hatte, dass sie auch das niedergerissen und zerstört hatte, was ihn hätte zurückhalten sollen, aus Anstand und Scham, und um wenigstens im Nachhinein Abstand von dem zu nehmen, was nicht hätte geschehen sollen (die Frau musste irgendwann kurz vor der Morgendämmerung rittlings auf seinem Gesicht gesessen sein und ihr nasses Geschlecht darauf gerieben haben), hatte der Mann beschlossen, dass all das, was ihm zugestoßen war, gerade deshalb hatte geschehen können, weil alles in diesem Land fremd und unerklärlich war, aber gerade deshalb auch verzeihlich. Er selbst hatte ja nicht mehr getan, als sich nach den Sitten des Landes zu richten, und wenn eine berühmte Schauspielerin während der Nacht tatsächlich in seinen Mund uriniert hatte, war es doch eine einmalige Erinnerung an ein wildes und in jeder Hinsicht faszinierendes Land; zu Hause würde es eine Menge Neid wecken, falls dies nicht alles nur etwas war, was er in der Nacht geträumt hatte, eine Möglichkeit, die der Mann nicht ganz ausschließen wollte.
    Das Taxi hielt wieder an. Die Frau musterte ihre Nägel, sie hielt die Finger gespreizt über ihrem Schoß.
    This wont’t work, sagte der Mann, ziemlich laut und mit einer stillen Verzweiflung, die er vor sich selbst zu verbergen suchte, obwohl das, was er gesagt hatte, eher an ihn selbst gerichtet war als an die Frau neben ihm auf dem Rücksitz.
    Die Frau hatte ihn zu einem großen Gebäude in Form einer riesigen, glatten Muschel mitgenommen, das auf einem Felsabsatz unterhalb der Zitadelle lag. Am Abend zuvor, im Restaurant, hatte ihm jemand zugeflüstert, die Zitadelle sei voller berittener, kurzgewachsener Gendarmen, jung und dumm, aber stark wie Affen, die sich die Tage mit Kartenspiel vertrieben, wenn sie nicht in voller Montur den Rausch auf ihren Feldbetten ausschliefen. Bei jeder Schneeschmelze bereiteten sie einen Staatsstreich vor, der dann im Rausch vergessen wurde. So also wurde dieses Land regiert, dachte der Mann.
    Das Gebäude unterhalb der Zitadelle war das historische Museum des Landes, gegenüber der riesigen mittelalterlichen Kathedrale mit ihren doppelten, spitzen Türmen gelegen, in allen kunsthistorischen Nachschlagewerken eingehend beschrieben; als sie aus dem Auto stiegen, läuteten die Glocken zu einem Gottesdienst, der schon begonnen haben musste, der offene Platz vor der Kathedrale war zu beiden Seiten eines breiten Fußwegs aus leeren Jutesäcken, der sich bis zu der hohen Schwelle an der Tür erstreckte, mit Schuhen übersät; dieser Platz glich dem Parkplatz eines großen internationalen Flughafens, und der Mann fragte sich, wie die einzelnen Kirchenbesucher nach dem Gottesdienst jeweils ihre eigenen Schuhe wiederfinden sollten.
    Dieses Museum wollte ihm die Frau zeigen. Aber der Mann hatte keine Lust, ein Museum zu besuchen, schon gar nicht ein historisches, sicher voll von Krugscherben und Steinäxten. Auch Pfeilspitzen oder Abgötter aus Lehm interessierten ihn nicht. Alle historischen oder archäologischen Museen, die er je besichtigt hatte, hatten ihn bereits nach wenigen Sälen gelangweilt und in ihm eine Sehnsucht nach seiner eigenen Zeit geweckt, vielleicht weniger reich und großartig, aber wenigstens nicht so unbegreiflich, paradoxerweise sogar sachlicher als diese Anhäufung von bronzenen Haarkämmen oder all diesen Angelhaken aus Bein, Objekte, die trotz ihrer wissenschaftlichen Präparierung, Katalogisierung und bei Bedarf auch vorsichtigen Restaurierung in ihren Glasvitrinen eher dazu beitrugen, die Vergangenheit zu mystifizieren und damit jeder sinnvollen Deutung zu entziehen.
    Die Frau hingegen schien in dieser Welt zu Hause zu sein. Gemächlich, die Augen groß und erwartungsvoll, ging sie von Vitrine zu Vitrine, betrachtete in ehrerbietiger Stille

Weitere Kostenlose Bücher