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Notluegen

Notluegen

Titel: Notluegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Swartz
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Dinge, von denen der Mann kaum wusste, wozu sie gedient haben mochten, Objekte, die ihre Geheimnisse nur den Eingeweihten preisgaben, die meisten tausend Jahre alt oder mehr, tote Gegenstände, von Menschen, die heute ebenfalls längst tot waren, benutzt, deren totaler Mangel an heutiger Verwendbarkeit sie in den Augen des Mannes doch irgendwie schön machte.
    Bereits in dem Mittelalter-Saal (Hc. Ou IV.) hatte der Mann jedes Interesse an den ausgestellten Objekten verloren, was im Hinblick auf die früh entwickelte Hochkultur und die im Übrigen dramatische Geschichte dieses Landes bedauerlich war. Besonders die unzugänglichen Gebirgsgegenden hatten sich als außerordentlich reich an Funden erwiesen, und die Sammlungen des Museums, das wusste der Mann ja, wurden in der gesamten zivilisierten Welt bewundert. Und aus einer anderen, längst vergangenen Zeit heraus übte diese Kultur immer noch ihren Einfluss auch auf die moderne Zivilisation aus: nach den Ausgrabungen in den nördlichen Provinzen im Jahr zuvor behaupteten mehrere wissenschaftliche Autoritäten, einige davon weltberühmt, die gesamte frühe Geschichte des Christentums müsse im Licht der neuen und verblüffenden Funde radikal umgeschrieben werden. Diese gewaltige Aufgabe war auch hier und da schon in Angriff genommen worden, und alle bekannten Arbeiten, welche diese wissenschaftliche Auffassung vertraten, befanden sich im Besitz des Museums. Diese internationalen Stimmen, die eine Revision früherer Geschichtsschreibung forderten, waren immer zahlreicher geworden, je mehr unbekannte Gegenstände durch die Ausgrabungen freigelegt wurden, Funde, deren scheinbar nie versiegender Strom in diesem Museum einen Saal nach dem anderen füllte.
    Und dabei handelte es sich keineswegs nur um Knöpfe und Phallussymbole! In einem riesigen Saal (TOR. Pshpsh 56.), gewölbt wie eine unterirdische Grabkammer, ruhten in Doppelreihen Mumien aus den allerältesten Herrscherdynastien, jede – bis auf einige wenige Ausnahmen – mit einem kleinen Kreuz aus Metall in den verdorrten Händen, schwarzbraune, lederartige Hände, kleiner als die eines Kindes, und abgesehen von diesen Kreuzen, zuweilen vergoldet oder mit Edelsteinen besetzt, schien dem Mann, sei der Unterschied zwischen einem solchen Ruheraum und den Holzkohlengrills, die er am Vormittag in einem anderen Stadtteil gesehen hatte, unerheblich.
    Trotzdem war ihm alles, was hier ausgestellt wurde, gleichgültig, und erst nachdem er sich zusammen mit der Frau durch den Saal mit den Mumien bewegt hatte, danach durch einen Saal mit ausgestopften Elefanten, von viel Gold und Brokat bedeckt, ein Kabinett mit einer erlesenen Sammlung von kleineren Guillotinen für Zwerge und Hofnarren, sowie einige kleinere Räume, ausschließlich mit blanken Waffen, krumm und oft zweischneidig, die in ihrer Vielfalt Zeugnis davon ablegten, wie viel Blutvergießen und barbarische Grausamkeit es doch erfordert hatte, diese verfeinerte Hochkultur jahrhundertelang aufrechtzuerhalten, erst da wurde dem Mann bewusst – mit der gleichen Plötzlichkeit, mit der wenige Stunden zuvor einer der großen Seevögel mit einem dumpfen Plumps auf dem Glasdach des Hotels gelandet war –, dass er das Schweigen genoss, welches das Interesse der Frau an all diesen Gegenständen begleitete.
    Seit sie das Museum betreten hatten, hatte sie kein Wort gesagt. Auch der Mann schwieg. Wortlos studierten sie zusammen Objekte, die sie vom allerersten Anfang an stumm vor Bewunderung gemacht und ihren Mund versiegelt hatten, als hätte das, was lebendig war, und das, was tot war, jetzt gemeinsam ein Geheimnis zu wahren.
    Und der Mann erinnerte sich daran, wie er und die Frau am Abend zuvor bei dem Fest in dem Restaurant miteinander zu sprechen versucht hatten, ein Gespräch, das schon nach einigen wenigen und, wie sich herausstellen sollte, ganz unbegreiflichen Worten in ungeschickte Gesten und Lächeln gemündet war, und wie ihr gegenseitiges Verhältnis (wenn man nun von einem solchen sprechen konnte) nach diesem verwirrenden, eigentlich abschreckenden Versuch einer sogenannten Konversation dasselbe wie vorher gewesen war. Nichts hatte sich verändert. Keiner wusste mehr vom anderen als zuvor. Nur ihre wechselseitige Erschöpfung zeigte, dass trotzdem etwas geschehen war.
    Schweigend, Seite an Seite, gingen sie weiter durch die Säle, bis sie fast wieder in der Gegenwart angelangt waren. Der Mann hatte die Hand der Frau in die seine genommen. Eine Karaffe in einem der

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