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Notluegen

Notluegen

Titel: Notluegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Swartz
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dieses Nicken, dieses Kopfschütteln – bedeuteten sie ja oder nein? War die Frau dafür oder dagegen? Und für oder gegen was?
    In mehreren Büchern, die der Mann zur Vorbereitung seiner Reise gelesen hatte, war besonders hervorgehoben worden, dass ein Kopfschütteln in diesem Land »ja« bedeutete und ein Nicken »nein«, eine uralte Sitte, die sowohl von kulturellem Hochmut wie von Isolierung zeugte, aber noch mehr von einer Hochkultur, die auf diese Weise erfolgreich über alles gewacht hatte, was in diese Welt eingedrungen und für alle Zukunft darin geblieben war, sich nie hatte abschaffen, auslöschen oder vertreiben lassen. Ein jeder derartiger Versuch war hier im Land im Voraus zum Scheitern verurteilt; auch darüber wusste der Mann nach seinen Studien Bescheid.
    So hatte Anfang des vorigen Jahrhunderts ein Fürst, berauscht vom Gedanken an den Fortschritt, seine Untertanen dazu zu bringen versucht, mit Hilfe einer Kopfbewegung das eine oder andere gemäß den Normen, die schon lange bei allen Nachbarn des Reiches galten, zu bejahen oder zu verneinen; jahrelang hatte dieser christliche Scharlatan, eigentlich ein Barbar mit Telefon, versucht, die Unsitte seiner Untertanen auszurotten und bei großartigen Volksfesten jedem den Kopf abschlagen lassen, der ihn falsch bewegt hatte, also auf und ab, wenn es stattdessen von einer Seite zur anderen hätte sein sollen, oder umgekehrt, jedoch ohne Erfolg, so dass, als das Blut an Beilen und Schwertklingen getrocknet war, sich in seinem Reich eine Ordnung etabliert hatte, die sich durch eine nahezu vollkommene Beliebigkeit auszeichnete, so dass ein Ja ebenso gut ein Nein sein konnte oder umgekehrt und die Entscheidung der Untertanen, mit dem Kopf zu nicken oder ihn zu schütteln, oft vom Zeitpunkt des Tages oder sogar des Wetters abhing.
    Die Schwierigkeiten, die dies für die Verwaltung des Landes bedeutete, nicht zuletzt für seine Diplomaten im Ausland, war in den Büchern, die der Mann gelesen hatte, besonders betont worden. Nur in schlecht beleuchteten Gassen am Rande der Städte konnte man heutzutage sicher sein, dass ein Ja ein Ja war, ein Nein immer noch ein Nein, und dass ein Kopfschütteln ersteres begleitete, ein Nicken letzteres. Der Mann erkannte, dass er sich eigentlich keiner Sache mehr richtig sicher war. Nicht in dieser Stadt. Eine große Gewitterwolke, schwarz wie ein Tintenfleck, breitete sich immer noch über den Himmel aus, ohne dass er sicher war, ob es eine Wolke war oder was es sonst bedeuten sollte; er war nicht einmal sicher, ob jemand anderes als er selbst es überhaupt bemerkt hatte. Konnte man unter solchen Umständen sagen, dass der Fleck wirklich existierte? Er hätte sich nicht getraut, jemanden zu fragen.
    Eine Fliege kroch über das milchweiße Kostüm der Frau. Er wollte nach ihr schlagen, hielt aber inne: Die Fliege, ebenso wie der Hund und die Gottesanbeterin waren in diesem Land heilige Tiere.
    Also hielt er den Schlag zurück.
    Das Dasein erschien dem Mann einfacher, wenn er hier keine anderen Rücksichten nehmen musste als die, welche sich zwischen den Bettlaken abspielten. Aber gerade jetzt war dieses Bett weit entfernt. Von allem anderen verstand der Mann wenig oder nichts. Zu ergründen, was diese Frau, seit gestern in seiner Gesellschaft, eigentlich meinte oder dachte, hatte er aufgegeben, ohne es überhaupt versucht zu haben. Nach fast drei Tagen in dieser Stadt hatte er so gut wie nichts erreicht. Auch die Scherben des Museums hatten ihn nicht viel klüger gemacht. Den Wein hatte er nicht angerührt, das war unhöflich und konnte sicher auch gegen ihn verwendet werden. Immerhin hatte er rechtzeitig an sich gehalten, nach einer Fliege zu schlagen.
    Konnte man ihm das zugutehalten?
    Tashur stand auf dem Etikett der Weinflasche. Dessen war sich der Mann absolut sicher. Mal für Mal hatte er das Wort schweigend buchstabiert, da gab es keinen Irrtum, aber vielleicht war die rote Flüssigkeit in dem Glas nicht einmal Wein. Wieder sah der Mann auf die Uhr. Konnte man wirklich sicher sein, dass das Personal des Hotels jetzt nicht gerade damit beschäftigt war, eine Seite nach der anderen aus seinem Pass zu reißen? Das starke Licht in dieser Stadt hatte ihn seit dem frühen Morgen gequält. Jetzt, schon spät am Nachmittag, hatte der Mann Kopfschmerzen, ohne Alkohol getrunken zu haben. Das Glas Rotwein (oder was wie Rotwein aussah) stand unberührt vor ihm auf dem Tisch. Die Uhr war immer noch auf dem Weg zur Sechs, es würde noch

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