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Notluegen

Notluegen

Titel: Notluegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Swartz
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würden.
    Nichts ist so verlogen wie die Phrase oder die Metapher, sagt die Frau zu dem Mann. Wer behauptet, es gehe ihm so gut wie Gott in Frankreich, hat sich politisch schon auf die falsche Seite geschlagen.
    Der Mann hingegen hat nichts gegen »Guten Morgen« oder »Gott sei Dank«, auch wenn es sich um Phrasen handelt und man mit ihnen vielleicht nicht einmal meint, was man sagt. Für den Mann sind sie in ihrer zu nichts verpflichtenden Zuwendung praktisch und nahezu vollendet. Man könnte sie allenfalls als Notlügen auffassen, um sich eine allzu große Wahrheitsliebe vom Leib zu halten. Die Hölle stellt sich der Mann als einen Ort vor, an dem die ganze Zeit nur die Wahrheit gesagt wird. Die Verlogenheit des Alltags ist deshalb weniger ein Schleier über der ungerechten Konstruktion der Gesellschaft als vielmehr eine Art, das menschliche Dasein erträglich zu machen; dass der Mann von Haus aus gelernt hat, auf welcher Seite des Tellers Messer oder Gabel liegen sollen, ist für ihn ebenso selbstverständlich wie dass er gelernt hat, auf allzu viel Aufrichtigkeit zu verzichten, in beiden Fällen, um Missverständnisse und unnötige Konflikte zu vermeiden.
    Die Frau aber sucht Konflikte. Sie will die Gesellschaftsordnung umstürzen, die Klasse des Mannes durch ihre eigene ersetzen, so dass alles, was am Boden gewesen war, jetzt nach oben strömen kann, worüber der Mann meist nur die Achseln zuckt, eine Veränderung, die er zwar selbst mit einer gewissen Einsicht und noch mehr Fatalismus als den natürlichen Lauf der Dinge und daher als unvermeidlich betrachtet, von der er sich aber im Hinblick auf die Konsequenzen, die dies auch für Tischmanieren und die Verbreitung unangenehmer Wahrheiten in der Gesellschaft hat, nicht viel verspricht.
    Dass er aus eigener Anstrengung den Lauf der Geschichte beschleunigen sollte, erscheint ihm daher als zu viel verlangt. Der Mann hat nichts gegen Schminke. Er ist für die Diktatur von Messer und Gabel, und sogar für die alltäglichen Phrasen, welche die Frau bekämpfen will, aber da die Liebe oft ebenso blind ist wie die Revolution, sieht die Frau nicht, was jeder Beliebige sehen kann, zumal der Mann keine Anstrengungen macht, es zu verbergen: Diesem Mann ist nicht zu helfen.
    Nicht, dass die Gleichgültigkeit des Mannes hinsichtlich anderer Menschen und der Ungerechtigkeiten, die sie erdulden müssen, die Frau nicht empören würde; all das sieht sie, und es empört sie. Aber sie hat trotzdem eine Schwäche für die blauen, aber kalten Augen des Mannes (wenigstens hinsichtlich der Farbe hat sie recht). Diese Augen bringen sie dazu, sich Hoffnungen zu machen, dass der Mann das aufgeben wird, was sie seinen Elfenbeinturm nennt. Dass er einsehen wird, dass ein Mensch erst durch andere Menschen entsteht, und begreift, wie Konventionen und Phrasen sich gerade gegen jene wenden, die sie verteidigen und benutzen, dass der emotionale Leichtsinn des Mannes schließlich auch sein eigenes Herz bis ins Innerste gefrieren lassen wird.
    Und der Weg zu den blauen und kalten Augen scheint ihr durch dieses Herz zu gehen, das deshalb gerettet werden muss, eine Rettung vor falschem Bewusstsein und verderblichem Eigennutz, eine politische Aufgabe, welche die Kälte in seinem Herzen wie in den Augen auslöschen wird, so dass nur die schöne blaue Farbe bleibt.
    Der Mann hat Zeit, die Frau fast nie. Wenn sie sich trotzdem gelegentlich sehen, pflegt sie mit Leuten aufzutauchen, die sie Genossen nennt. Einer davon ist ein mürrischer Kerl, untersetzt und wortkarg, mit nervös zwinkernden hellgrauen Augen, dessen Schweigen die Frau mit seiner vollständigen Hingabe an die Sache erklärt; der Mann ahnt, dass damit die bevorstehende Revolution gemeint ist. Die Frau sagt, dieser Genosse sei schon jetzt unverzichtbar, aber seine wirkliche Bedeutung werde erst zutage treten, wenn die herrschende Gesellschaftsordnung gestürzt ist.
    Neugierig mustert der Mann den Mürrischen, im Bewusstsein dessen, dass es in den Augen der Frau für ihn ein großes Privileg ist, in so ungezwungener Form eine so wichtige Person zu treffen, und zu allem, was die Frau sagt, schweigt der Genosse, lächelt nur selbstzufrieden mit gebleckten Zähnen.
    Die anderen Genossen in ihrer Gesellschaft sind gutmütiger. Ein blondes Mädchen mit langen, strähnigen Haaren und großen Brüsten und zwei männliche Genossen, die den Mann an zwei ziemlich ungelenke, verspielte Welpen denken lassen, in Baumwollhemden und Sandalen, obwohl es

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