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Notluegen

Notluegen

Titel: Notluegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Swartz
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keinem Wort gesteht er ein, wie miserabel sie sind, und dass er selbst weiß, dass sie miserabel sind. Schreibt er in freien Versen, liegt das daran, dass er keine Reime finden kann, und außerdem reimt er nicht, um nicht unzeitgemäß zu wirken.
    Denn der Mann will modern sein. Aber stattdessen tischt er vor allem Lügen auf. Er lügt über das, was er tut und denkt, es kommt vor, dass er Personen erfindet, die nicht existieren. Von denen erzählt er Dinge, die nie geschehen sind, er verkehrt sogar mit diesen nicht-existierenden Personen. Das ist eine schwere Kunst, die eine ganze Menge Phantasie erfordert. Mehr als einmal sagt er zu der Frau, er sei wieder krank gewesen und habe im Bett gelegen, und auch das ist eine Lüge. Da soll er allein zwischen die Laken gebettet gewesen sein und auf den Arzt gewartet haben, der in Wahrheit nicht gebraucht wurde (bei einer anderen Gelegenheit lässt er sich sogar ins Krankenhaus einweisen), und all das nur, um ihr Mitleid oder wenigstens ihre Neugier zu wecken. Aber Krankheiten wecken selten Neugier und eingebildete Krankheiten kein Mitleid.
    Die Frau, in die der Mann sich verliebt zu haben meint, ist politisch engagiert. Das ist der Grund dafür, warum sie so selten Zeit hat, ihn zu treffen. Ihr politisches Engagement ist sowohl praktisch wie uneigennützig; sie geht zu Versammlungen, in denen sie sich oft von ihrem Platz weit vorn im Saal erhebt, ums Wort bittet und Vorschläge macht. Die Frau fordert oder verurteilt etwas. Oder sie verlangt eine Abstimmung. Letzteres ist nicht unriskant. Eine Abstimmung ist als letzter Ausweg zu betrachten, wenn alle anderen sich als ungangbar erwiesen haben. Aber jede Abstimmung splittert und spaltet, so geht politische Handlungskraft verloren, und mehr als einmal gerät die Frau deshalb in einen schweren Konflikt mit ihrem eigenen Gewissen.
    Hat sie das Richtige getan? Im Stillen zweifelt sie manchmal. Aber die Frau denkt, dieser heimliche Zweifel sei der Preis, den eine politische Aktivistin zu zahlen hat.
    Ein Trost ist, dass Abstimmungen in erster Linie den Parlamentarismus kennzeichnen, der künftig abgeschafft werden wird, der Frau gemäß in fünf oder höchstens zehn Jahren, und fünf bis zehn Jahre sind keine besonders lange Zeit. Sonst spricht die Frau gern in Zeiträumen von Epochen und Jahrhunderten, aber jetzt ist Eile geboten; die Umstände sind für die Massen und Arbeiter des Landes unerträglich geworden, große Veränderungen stehen sozusagen vor der Tür.
    Einen sehr großen Teil ihrer Freizeit verwendet die Frau darauf, Matrizen zu ziehen, die von den Studiengruppen ausgewählten Lehrbücher zu lesen, denen zu helfen, die sie noch nicht gelesen haben, und in Demonstrationen mitzumarschieren, die sie auf Kalenderblättern notiert, welche sie daheim an die Kühlschranktür geklebt hat. In ihren Gesprächen unter vier Augen mit dem Mann beansprucht die Notwendigkeit, die Geschäftsbanken des Landes zu verstaatlichen und die Modeindustrie daran zu hindern, Pullover in mehr als zwei oder höchstens drei Farben herzustellen, einen großen Raum.
    Alledem hört der Mann höflich zu, jedoch mehr und mehr überzeugt, dass das Interesse, das er auf diese Weise für etwas zeigt, was ihn nicht im Geringsten interessiert, keinerlei Eindruck auf diese Frau macht.
    Sein eigenes Interesse für Politik ist bestenfalls theoretisch und zerstreut. Politik empfindet er als Schauspiel, manchmal auch als Machtspiel, das man analysieren kann, doch glaubt er kaum, dass Züge in verstaatlichter Regie pünktlicher wären, als wenn die Eisenbahn privat ist. Letzten Endes ist ja Politik für den Mann keine Herzenssache. Die Frau wirft ihm das vor. Und es stimmt: Ihre Welt ist nicht die seine, er betrachtet sie von außen.
    Die Frau ist überzeugt davon, dass die Gesellschaft ungerecht und gesetzlos ist, alles, was der Mann als normale Ordnung empfindet, sei nur Schein, um die Verlogenheit zu verbergen, all die Lügen, die allerorten diese Ungerechtigkeit stützen und tragen. Die Frau misstraut allen Konventionen. Auch in den Phrasen des Alltags verbirgt sich die Ungerechtigkeit, so dass ein gewöhnliches »Guten Tag« oder »Wie geht’s?« der Frau zufolge nur Schminke ist (ihr Räsonnement gilt auch der Schminke in Tiegeln), welche die Risse kaschieren soll, die sich dort unter der Oberfläche der Gesellschaft bereits befinden, unsichtbar, Risse, die diese Gesellschaft sofort zum Einsturz bringen würden, wenn sie entblößt statt verborgen

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