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Notluegen

Notluegen

Titel: Notluegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Swartz
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wie vermutlich bald auch die Frau leid sind. Sie hat ja doch eine Schwäche für diesen Mann, wenigstens für seine blauen Augen, und wenn die Welt sich bald verbessern wird, kann man ja nicht ausschließen, dass auch er zur Vernunft kommt und sein eigenes Bestes erkennt. Einer solchen Möglichkeit gegenüber ist der Mann jedoch unschlüssig, zumal er nicht verstehen kann, was sie mit der Verstaatlichung des Bankwesens zu tun hat oder mit einer solidarischen Handlung, wie schlechten statt guten Rotwein zu trinken. Nicht zuletzt in dem letzteren Punkt sieht der Mann die Voraussetzung dafür, dass sie beide, die Frau und er, einander werden verstehen können.
    Aber was ist es, das so schwer zu verstehen ist? Der Mann beteiligt sich nicht an der Verbesserung der Welt, das stimmt, aber nicht deshalb, weil er mit ihr zufrieden wäre, so wie sie ist – er ist eher unzufrieden –, sondern deshalb, weil er das als völlig sinnlos betrachtet. Die Welt lässt sich nicht verbessern; jeder Versuch dazu würde sofort in sein Gegenteil umschlagen. Verbesserungen würden bald Verschlechterungen nach sich ziehen, und jedes einigermaßen harmonische Gleichgewicht würde sich gerade als der provisorische Zustand zwischen »Guten Morgen« und »Guten Abend« erweisen, welcher der Frau so verhasst ist.
    In diesem Herbst hat die Frau immer weniger Zeit für ihn. In letzter Minute sagt sie Verabredungen ab oder kommt erst gar nicht. Allein bleibt er in einem Café am Fenster zur Straße sitzen und wartet, der Mann ahnt, dass es die Revolution ist, die näher rückt.
    Stattdessen beginnt die Frau ihm Briefe zu schreiben. Sie handeln fast ausschließlich von Politik und enthalten lange Abhandlungen darüber, wie sie sich mit verschiedenen tagespolitischen Fragen herumschlägt. Der Mann findet diese Briefe unweiblich und langweilig, fast unlesbar, außerdem etwas komisch, da sie doch in derselben Stadt leben. Einfacher als zur Post zu gehen wäre es ja, sich zu treffen.
    Aber dazu hat die Frau keine Zeit mehr und behauptet, sie erprobe ihre Gedanken, indem sie sie zu Papier bringe, und ihr Briefwechsel sei außerdem eine Art, diese intensive Gedankenarbeit festzuhalten, die sie beide – jedenfalls sie selbst – in der Zukunft als authentische Dokumentation dieser vorrevolutionären Zeit schätzen würden.
    Widerwillig beantwortet der Mann ihre Briefe. Er versucht seine Antworten zuerst möglichst kurz und persönlich zu halten, aber bald geht er doch auf ihre Überlegungen ein, wie die herrschende Gesellschaftsordnung abgeschafft werden könnte; er greift ihre Vorschläge auf und kommentiert sie nach bestem Vermögen. Besonders viel weiß er jedoch nicht über das, was er kommentiert und mitunter sogar selbst vorschlägt. Ihren Briefen meint er jedoch zu entnehmen, dass die Frau die Hoffnung hegt, die Gesellschaft lasse sich von Grund auf durch dieselbe hingebungsvolle Aufopferung verändern, mit der sie spätnachts die Kurbel des Matrizenapparats dreht. Manchmal wirkt sie jedoch im Zweifel, ob ein solch friedlicher Weg möglich wäre; eine Revolution scheint trotz allem unumgänglich – daran ist nicht zu rütteln – und dann vermutlich blutig zu werden.
    Für dieses Blutvergießen werden diejenigen verantwortlich sein, die sich der Revolution widersetzen, ihren objektiven Klasseninteressen folgend, und dass die Revolution sie bald wie Läuse zerdrücken wird, verringert nicht die Trauer über das unschuldige Blut, das dann leider auch fließen wird. Dieses unvermeidliche Blutvergießen wird durch eine lange Reihe von Metaphern ausgedrückt, die im Genossenkreis zirkulieren, bevor sie in ihren Briefen auftauchen, und darin geht es auch um Dinge wie Eier, Omeletts und gehärteten Stahl, es wird zerschmettert, gehobelt oder gegraben und es sprengen sich sogar Blumen durch den Asphalt. Diesen Bildern ist gemeinsam, dass sie alle auf Seiten des gewaltsamen Umsturzes sind.
    Aber so richtig scheint die Frau sich doch nicht entscheiden zu können; auf eine revolutionäre Stimmung folgt oftmals eine reformistische, plötzlich und wie eine Migräne- oder Tränenattacke, und der Mann zögert nicht, diesen Wankelmut, um nicht zu sagen inneren Widerspruch, anzuprangern, was aber sofort von der Frau mit dem Hinweis auf einen deutschen oder russischen Denker verteidigt wird (der Mann hat selten etwas von diesen Denkern gehört), welcher schon Ende des vorigen Jahrhunderts oder nur wenig später über die Notwendigkeit geschrieben hat, einen Schritt

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