Notluegen
mindestens eine Stunde oder mehr dauern, bis die Dunkelheit anbrach.
Aber dieses graue oder trüb-weiße und doch glühende Licht ohne besondere Form oder Körper hatte ihn schon vollkommen erschöpft, und auch die Frau an seiner Seite saß regungslos, verträumt da, aber wie es schien doch zufrieden, obwohl sie vielleicht nur in sein Buch versunken war.
Vorsichtig hatte sie sich an ihn gelehnt und möglicherweise ohne jede Absicht ganz leicht mit ihrem Kopf die Schulter des Mannes berührt, ein paar dünne Strähnen ihrer Haare lagen an seiner Wange. Der Mann traute sich nicht, sich zu bewegen; er fragte sich, wie lange ein solcher Augenblick inniger Vollkommenheit dauern könnte.
Aber die Frau war mit all den fremden Wörtern in dem Sprachführer beschäftigt, und während der Mann die Augen schloss, um sich vor dem Licht zu schützen, das von Marktplatz und Himmel wie verschüttete, glühende Milch durch das große Panoramafenster in die Cafeteria sickerte, schien sie unbeirrt darin zu lesen.
Konnte der Mann sicher sein, dass sie las? Aus den Büchern, die er studiert hatte, wusste er, dass nur die Amtsträger (zu denen Schauspieler wohl nicht zählten) in diesem Land lesen und schreiben konnten, dass der Analphabetismus ebenso verbreitet war wie die Cholera, aber zugleich als schändlich galt und daher zu Selbstmorden führte, und zwar so vielen, dass in einem der Bücher des Mannes behauptet wurde, man könne von einer »Epidemie« sprechen.
Er sehnte sich nach Nacht und Dunkelheit. Noch mehr sehnte er sich nach dem Bett der Frau, aber auch nach seinem eigenen im Hotel. Bis zuletzt hatte der Mann gehofft, sie würde wieder etwas zu ihm sagen, auch wenn er es nicht verstehen würde. Aber die Frau schwieg. Mit Haut und Haaren hatte sie sich von seinem Buch verschlingen lassen.
Verstand sie überhaupt, was sie las? Ohne jede Kenntnis des Englischen?
Der Mann fragte sich, was Aspirin in ihrer Sprache heißen mochte, sah aber fast sofort ein, dass Aspirin vermutlich in jeder Sprache einfach Aspirin hieß. Solche Kopfschmerzen hatte er nicht verdient. Trotzdem war es ein geruhsames und fast geborgenes Gefühl, an diese Frau gelehnt dazusitzen. Ihr Parfum war schwer und bitter; der Mann steckte seine Nase in das Haar der Frau und legte ihr behutsam seinen Arm um die Schultern. Sie ließ es geschehen. Er war nicht einmal sicher, ob sie es bemerkt hatte.
Danach schloss er wieder die Augen.
Aber zuvor meinte er aus dem Augenwinkel zu sehen, wie sich die Lippen der Frau sacht bewegten, wie sie still für sich las, während sie in seinem Buch Zeile für Zeile mit dem Zeigefinger entlangfuhr, jedoch von rechts nach links. Ja. Jedes Mal von rechts nach links. Aber ganz überzeugt war der Mann nicht von dem, was er gesehen zu haben meinte: Von Kopfschmerzen geplagt und in diesem Zustand vollständiger Erschöpfung schien es ihm doch möglich, dass das alles zusammen nur eine Einbildung war.
Schon bei ihrem ersten Treffen behauptet der Mann, er sei »stark« und »geduldig«. Mit der Zeit wird er das als Fehler betrachten und das, was er da gesagt hat, als die Hauptursache für sein späteres Scheitern anführen.
»Stark« hat er wohl gesagt, weil Männer sich üblicherweise so bezeichnen und glauben, sie müssten stärker sein, als sie es für gewöhnlich sind. Jung wie er ist, fehlen ihm die Erfahrung und Reife, die es ihm erlaubten, zu der Frau zu sagen, was eher der Wahrheit entsprach (obwohl junge Menschen das nicht gern zugeben): dass er statt stark zu sein schwach ist.
Aber warum stattet er sich mit Geduld aus? Einer Geduld, die er nie gehabt hat?
Im Nachhinein erstaunt das den Mann. Geduld ist ja nicht viel anderes als Schwäche, auch gilt Geduld bei jungen Menschen gewöhnlich nicht als Tugend; und in diesem Punkt unterscheiden sich Frauen kaum von Männern. Obwohl, was er damals statt »geduldig« hätte sagen sollen – also ungeduldig, an der Grenze zu hysterisch –, wohl auch nicht zu seinem Vorteil gereicht hätte.
Im Übrigen waren ja seine Absichten hinsichtlich dieser Frau nur allzu offensichtlich (jedenfalls für ihn selbst), weshalb er sie bis zuletzt zu verbergen sucht, wenigstens so lange, wie ihr Verhältnis von eher zufälliger Natur ist und in der Gesellschaft von anderen stattfindet.
Außerdem lügt der Mann. Wenn er der Frau beispielsweise erzählt, was tatsächlich wahr ist, dass er Gedichte schreibt, geht daraus nicht im Geringsten hervor, dass die Gedichte richtig schlecht sind. Mit
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