Notluegen
zurück zu tun für zwei, die man vorwärts tun muss.
Was dem Mann als dürftige und ziemlich unpraktische Empfehlung erscheint, betrachtet die Frau als die große Einfachheit, die gerade das Geniale auszeichnet. Mit jeder Woche ihrer Bekanntschaft neigt die Frau immer mehr zu einer blutigen Revolution. Der Mann beginnt das Schlimmste zu befürchten. Und die Frau warnt ihn – Anzeichen für das, was bevorsteht, häufen sich für den, der Augen hat zu sehen, und auch wenn dergleichen nicht in den (bürgerlichen) Tageszeitungen steht, ermahnt die Frau den Mann zu versuchen, auch zwischen den Zeilen zu lesen.
Der Mann versucht es, gibt aber bald auf. Für eine solche Lesart fehlt ihm das Talent oder vielleicht die richtige Übung. Aber die Frau gibt nicht auf. Sie schreibt ihm weiterhin. Bei einer Gelegenheit öffnet er einen solchen von der Unausweichlichkeit der Revolution durchtränkten Brief, der am rechten oberen Rand des Umschlags mit Briefmarken (3 St.) frankiert ist, welche Seine Majestät den schwedischen König zeigen.
Auch wenn der Mann in seinen Antwortbriefen mitunter auf die politischen Erwägungen der Frau eingeht, geschieht dies aus ausschließlich egoistischen Gründen. Sie haben viel mehr mit der Frau selbst und sehr wenig mit dem bevorstehenden Umsturz zu tun. Belege dafür müssen nicht zwischen den Zeilen dessen gesucht werden, was er an sie schreibt, es steht mitten darin. So schreibt der Mann, dass er zur Notwendigkeit einer sofortigen Verstaatlichung des privaten Bankwesens keine Stellung beziehen könne, und daher auch nicht dazu, ob ein detaillierter Plan sofort ausgearbeitet werden müsse, aber dass er ihr gern zum Ende des Sommers Geld leihen wird, falls sie ein paar Groschen braucht.
Mehrmals hat sie ja über Ebbe in der Kasse geklagt. Und immer wenn die Frau ihn brieflich oder telefonisch ermahnt, Matrizen zu ziehen oder an Demonstrationen teilzunehmen, hat der Mann eine Entschuldigung dafür, dass er es gerade dieses Mal nicht tun kann. Er entschuldigt sich erneut. Die Lügen, zu denen er in solchen Fällen gezwungen ist, erscheinen ihm als ziemlich harmlose Notlügen; um die gesamte verrottete bürgerliche Gesellschaft zu stützen, taugen sie ohnehin nicht.
Aber im Nachhinein sind es die kleinen Lügen in seinen Briefen, die ihn am meisten betrüben. Wenn der Mann sich später an sie erinnert, erscheinen sie ihm überflüssig, schon als sie geschrieben wurden:
»Wenn ich mich über die Zeilen Deines Briefes neige, kann ich vielleicht den Duft Deines Haares ahnen. Ich könnte es zumindest versuchen. Und um halb drei Uhr nachts mitten in einem sommerhellen Stockholm beuge ich mich über Deinen Brief und schnuppere über den Zeilen hin und her wie ein Hund. Es muss unwahrscheinlich lächerlich aussehen.«
Das stimmt. Aber es sieht nicht nur unwahrscheinlich lächerlich aus, sondern soll auch noch Poesie sein, was ebenso wenig gelingt, wie wenn er in einem späteren Brief dieser Frau »den Vollmond mit Mandelflocken und gesponnenem Zucker auf einer Sommerveranda in einer Nacht im August mit dem Löffel zu essen« geben will.
Später wird sich der Mann für solche Zeilen schämen, aber noch mehr für seine kleinen und überflüssigen Lügen. Warum beschreibt er sich in diesem Sommerbrief mit einem von der Frau verfassten Brief in den Händen, und zwar mitten in der Nacht? Alles Lügen! Nur wenige Male in seinem Leben ist es dem Mann gelungen, sich bis um halb drei Uhr nachts wach zu halten, und bei keiner dieser Gelegenheiten hat er einen Brief gelesen, geschweige denn seine Nase daran gerieben.
Stattdessen hofft er, ausnahmsweise mal ganz allein mit der Frau zu sein. Er will sie ganz für sich haben. Die anderen stören. Der Mann will sie nicht mit den Genossen teilen, die ja auch Anspruch auf sie zu erheben scheinen, und zwar in einem solchen Maße, dass ihr Briefwechsel gegen Ende des Sommers fast gänzlich ihre früheren Treffen im Corso, im Studentenzentrum, in einem abgelegenen Bierlokal oder im Zeitungsraum der Stadtbibliothek unten am Sveavägen ersetzt hat. Trotzdem redet sich der Mann ein, wenn es ihm gelingen würde, ein einziges Mal mit der Frau ganz allein zu sein, würden ihre Instinkte oder Gefühle sich als stärker erweisen denn ihre politischen Überzeugungen, und dann würden seine eigenen, eher innigen als rhetorischen Qualitäten zu ihrem Recht kommen.
Das setzt jedoch voraus, dass die Frau ein Bild von ihm hat, welches einigermaßen mit dem übereinstimmt, das
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