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Notluegen

Notluegen

Titel: Notluegen
Autoren: Richard Swartz
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weibliche Formen bekommen hat, für die, wie die Frau sieht, die Jungen sich interessieren, die das Mädchen manchmal nachmittags von der Schule nach Hause begleiten und dann stundenlang wie Hunde in ihrem Zimmer auf dem Boden sitzen bleiben.
    Hat sie einen Freund? Die Mutter weiß es nicht; wenn sie fragt, faucht die Tochter zur Antwort wie eine wütende Katze. Wenn die Rede auf Jesus kommt, errötet sie.
    Die Bibel der Tochter erfüllt die Frau mit Unbehagen: nicht dass sie fände, es sei verlorene Mühe oder eine verderbliche Lektüre, aber die Religion hat in ihrem eigenen Leben nie eine Rolle gespielt, und jetzt steht sie verständnislos vor ihrer eigenen Tochter, ohne ihr helfen zu können, einer Tochter, die zudem die eigene Mutter beschuldigt, dass sie in all den Jahren ohne Gott und ohne den geringsten Gedanken an ihn hat leben können; und der Antwort der Mutter, als sie jung war, hätten die Menschen ganz andere Sorgen gehabt, es hätte damals einfach keine Zeit für Gott gegeben, begegnet die Tochter jedes Mal mit einer verächtlichen Miene, fast einer Grimasse, so dass die Mutter ahnt, dass diese Bibel und was darin steht sich als wichtiger erweisen werden als die Liebe zwischen Mutter und Kind, und ihr schließlich die Tochter wegnehmen werden.
    Niemand kann ohne Gott leben, sagt die Tochter.
    Das verletzt die Mutter. Es ist, als hätte ihre Tochter ihr eigenes Leben schrumpfen lassen, fast als wollte sie es ihr nehmen.
    Es beunruhigt die Frau, dass dieses Buch eine solche Macht über ihre Tochter ausübt, und noch mehr, dass sie nicht weiß, worin diese Macht besteht. Nicht einmal, was dieses Buch enthält, weiß sie genau, aber mit der Bibel kann es sich nicht viel anders verhalten als mit einem Polizeidossier, einige sind eingeweiht, andere nicht, und die Frau bereut jetzt, dass sie sich nicht bemüht hat herauszufinden, was in den Papieren der Sicherheitspolizei über ihren ehemaligen Mann steht. Wenn man weiß, was geschehen ist, hat man ja auch eine Möglichkeit vorherzusehen, was in Zukunft vielleicht geschehen kann oder nicht.
    Hatte man ihr im Schloss nicht angeboten, das Dossier zu lesen? Oder war das nur ein Bluff gewesen? Hatte der Unbekannte schon im Voraus gewusst, dass sie ablehnen würde, wie alle schockierten und anständigen Menschen?
    Und hätte die Frau mit Ja geantwortet, darauf bestanden, dass das Angebot des Schlosses ernst gemeint war, hätte es sicher zahllose Vorwände gegeben, warum dies gerade nicht möglich wäre, erst zu einem späteren Zeitpunkt, wenn sie es sich schon anders überlegt oder alles vielleicht vergessen hätte. Trotzdem hatte die Frau einen Fehler gemacht. Nicht, weil es sie noch interessiert hätte, über was und wen ihr ehemaliger Mann berichtet hatte: Aber in den Papieren hätte es etwas geben können, was nur sie verstand, etwas Unbeabsichtigtes und für alle anderen Unbegreifliches, gar nicht für sie bestimmt und trotzdem wie ein Zeichen.
    Die Bibel der Tochter hat steife, in dunkelbraunes Leder gebundene Deckel. Wie ein Tagebuch für Teenager ist sie mit einem Metallschloss versehen. Der Schlüssel fehlt. Die Mutter findet, ein solches Buch passe nicht zu einem jungen Mädchen, eher schon zu einem ältlichen Pfarrer oder einem Mönch in seiner Zelle. In diesem Mädchenzimmer macht eine solche Bibel einen düsteren Eindruck, und die Frau fragt sich, wer sie der Tochter gegeben haben mag und in welcher Absicht.
    Sollte sie die Abwesenheit der Tochter ausnützen und sie mitnehmen? Sie verstecken? Nein. Das ist ein ebenso unkluger wie gefährlicher Gedanke, und auf einmal ist sie sich fast sicher: Wenn sie im Schloss darum gebeten hätte, das Dossier mit der Aufschrift »Pilot« – letec – sehen zu dürfen, hätte man ihr sofort eine Erklärung aufgetischt, warum das leider unmöglich sei.
    Ob ihr eigener Mann diesen Decknamen freiwillig gewählt hatte? Um auf diese Weise seinen Vater nach dessen Tod zu entehren?
    Das will sich die Frau nun doch nicht vorstellen; dieser Deckname muss der Vorschlag seiner Auftraggeber gewesen sein, die auf diese Weise an ihr fast grenzenloses Wissen erinnerten, und daran, dass ein Pilot oder Flieger nur ein Bruchteil von dem war, was sie bei Bedarf aus ihren Verstecken hätten hervorziehen können. Jesus Christus wurde von seinen eigenen Leuten verraten und lebendig ans Kreuz genagelt. Ihr Mann hatte seinen Vater zwar erst nach dessen Tod verraten, aber da konnte er sich nicht mehr wehren, und ihr ehemaliger Mann hätte
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