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Notluegen

Notluegen

Titel: Notluegen
Autoren: Richard Swartz
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ihre eigene Stimme?), am Anfang habe ich dich geliebt. Ich habe dich mehr geliebt, als du mich geliebt hast, weil ich glaubte, es müsse so sein. Damals wollte ich es allen recht machen. Weißt du noch? Ich brauchte dich, um es dir recht zu machen. Ich bewunderte die Sicherheit, mit der du durchs Leben gingst. Aber du hast mich auch verlegen und ängstlich gemacht, weil ich nichts von anderen Menschen verstand. Ich sei ungeschickt und linkisch, nicht mit den Händen, aber mit meinen Gefühlen, hast du gesagt. Wieder und wieder hast du es mir gesagt, bis ich anfing zu glauben, es sei wahr. Ich habe dich um alles beneidet, was du konntest und ich nicht, du kanntest die Namen von Pflanzen und Tieren, von allen Arten von Fröschen, während ich immer dachte, es gäbe nur eine einzige Art. Ich hatte ja keine Kenntnisse. Woher hätte ich sie haben sollen? Du warst in jeder Hinsicht besser. Du liebtest unsere Tochter mehr, als ich sie liebte. Ich sollte das nicht sagen, ich weiß. Aber es ist wahr. Ich habe sie angezogen, mit ihr geschimpft, während du ihr erlaubt hast, zwischen uns im Bett zu liegen. Du bist gekommen und gegangen, warst fast nie zu Hause. Da habe ich sie manchmal geschlagen. Wenn du nach Hause kamst, hast du sie getröstet. Sie war immer wichtiger als ich. Mich hast du nie getröstet. Es gab Momente, in denen ich wünschte, sie wäre nie geboren worden, es gäbe sie nicht – so besinnungslos liebte ich dich damals. Und dann kamst du nach Hause, und sobald du zur Tür herein warst, hast du sie mehr geliebt als mich. Aber eine solche Liebe wollte ich nicht haben. So konnte ich nicht leben, und ich habe aufgehört, dich zu lieben.
    So einfach ist das alles für dich, sagt der Mann.
    Nein, sagt die Frau. Das alles ist für mich sehr schwer.
    Und was meinst du, wie es für mich ist?
    Das weiß die Frau nicht, sie weiß nur, dass sie das nicht mehr interessiert und sie daran auch nichts ändern kann. Auch so vergeht ja die Zeit: indem sie uns ebenso gleichgültig wie hilflos macht.
    Die Frau versucht, ihm in die Augen zu sehen, aber der Blick des Mannes ist zu wässrig, und den Kopf hat er gesenkt, sein Blick streift nur ihre rechte Schulter.
    Lass uns nicht mehr über das sprechen, was gewesen ist, sagt der Mann. Ich bin ja hierher gekommen, weil ich dachte, du wolltest über uns beide sprechen.
    Jetzt nicht mehr, sagt die Frau.
    Du hast mir also nichts zu sagen, fragt der Mann.
    Nein, jetzt nicht mehr.
    Willst du vielleicht, dass ich gehe?
    Ja, sagt die Frau langsam. Ich will, dass du jetzt gehst.
    Der Mann bleibt für eine Weile schweigend vor ihr stehen, als müsse er sich an das gewöhnen, was sie gesagt hat, aber da er selbst losgeworden ist, was er sagen wollte, und damit zufrieden ist, bleibt er nicht sehr lange stehen.
    Ja, das war’s dann, sagt er, bevor er geht, wie die Frau es sich gewünscht hat.
    Als der Mann gegangen ist und sie den Tisch abgedeckt und die Fenster geöffnet hat, damit sich der Tabakrauch verzieht, tut es der Frau leid, dass sie so hart zu ihm war. Vielleicht hätte sie ihm erlauben sollen, ihre Hand zu halten, und versuchen, ihm mit ein paar Worten auf die Sprünge zu helfen, ihr das zu erzählen, was sie von ihm erhofft hatte. Und sie versucht sich vorzustellen, in welcher ständigen Angst ihr ehemaliger Mann wohl lebt, dass ihn jemand verrät, jemand, der sein Dossier kennt und seine Unterschrift gesehen hat, und in welche noch tiefere Einsamkeit diese Angst ihn gestürzt hat.
    Ohne besonderen Grund geht sie auf dem Weg ins Badezimmer erst in das Zimmer der Tochter, sieht sich in dem leeren, sorgfältig aufgeräumten und irgendwie traurig wirkenden Mädchenzimmer um, während sie ein paar Kissen auf dem Bett der Tochter zurechtrückt, vor allem, um sich nützlich zu fühlen.
    Da liegt die Bibel der Tochter. Die Frau kann kaum glauben, dass das Mädchen sie absichtlich zurückgelassen hat, aber auch nicht, dass es vergessen hat, sie mit in die Sportferien zu nehmen. Die Frau hat ohnehin nichts dagegen, dass die Bibel zu Hause zurückgeblieben ist, da die Bibelstudien der Tochter ihr Unbehagen bereiten. Zuerst hatte sie gehofft, es wäre nur eine unschuldige Schwärmerei, eine Art geistiger Rausch, der einem jungen Mädchen helfen könnte, sich über das Zeitliche und Körperliche zu erheben, ehe das Geschlecht erwacht und sie wieder darin eintauchen lässt, doch die Tochter hatte weiterhin die Bibel gelesen, auch nachdem sie sich an die monatlichen Blutungen gewöhnt und
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