Notruf 112
lösen und abzustürzen drohte. Auf diverse Anschreiben hatte die alte Dame nicht reagiert. So landete der Fall schließlich bei uns in der Integrierten Leitstelle:
»Es geht um eine alleinstehende ledige Frau, Jahrgang 1924. Der Briefkasten quillt seit Monaten immer wieder über. Man hat sie auch schon sehr lange nicht mehr gesehen. Ans Telefon geht sie auch nicht. Der Hausmeister und die Hausverwaltung sind in Sorge, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte.«
Also wieder ein Fall für unseren dreiteiligen sogenannten Leichenzug, bestehend aus einem Einsatzleitwagen, einer Drehleiter und einem Rettungswagen. Denn bevor wir mit großem Aufwand fest verschlossene, zum Teil mit Innenriegeln gesicherte Wohnungstüren aufbrechen, schauen wir erst von außen in die Wohnung und steigen notfalls über die Fenster bzw. die Balkontür ein. Die lassen sich nämlich meist deutlich einfacher und schneller öffnen. Eine Tatsache, die – nur mal so am Rande bemerkt – übrigens auch Einbrecher zu nutzen wissen.
Zusammen mit einem Polizisten stiegen die Kollegen also über die große Dachterrasse ein. Die Balkontür war leicht zu öffnen. Sie ließ sich aber nicht ohne Weiteres nach innen aufdrücken. Die Kollegen mussten erst zahlreiche stramm gespannte Nylonfäden zerschneiden, bis sie das mit kostbaren Antiquitäten möblierte Wohnzimmer betreten konnten. Dort erwartete sie ein bizarrer Anblick: Sie fanden sich unversehens in einer Art Riesenspinnennetz wieder. Die ganze Wohnung war von Wand zu Wand mit sich überkreuzenden Fäden durchzogen, die mit Reißzwecken an Tapeten und Polstern befestigt worden waren. Ebenso waren alle Fenster von innen mit Fadenkreuzen überzogen. Hinter verschlossenen Türen hatte sich hier ein menschliches Drama in völliger Abgeschiedenheit abgespielt. Was die Baronin mit diesem Spinnennetz bezweckte, ist für immer ihr Geheimnis geblieben. Wir denken, dass es ihr rührender Versuch war, einen nicht näher definierten »Elektrosmog« abzuleiten, vor dem sie sich in den letzten Jahren ihres Lebens so gefürchtet hatte. Anders konnten wir uns dieses seltsame Gespinst jedenfalls nicht erklären. Sie hatte sogar bereits damit begonnen, sämtliche Tür- und Fensterritzen von innen hermetisch mit Folien und Klebebändern gegen die gefürchtete »Strahlung« abzudichten. Das war der Grund, warum keinerlei Leichengeruch ins Treppenhaus gedrungen war.
Zu ihren Verwandten und Freunden von früher hatte sie offenbar schon viele Jahre keinen Kontakt mehr gehabt.
Die Kollegen fanden die Leiche in der Küche – bereits mumifiziert. Der Tod hatte sie wohl morgens beim Kaffeekochen überrascht. Jedenfalls trug sie noch Nachthemd und Morgenmantel. Auf dem Boden lag die ausgeleerte Kaffeedose, die sie im Sturz mitgerissen hatte. Die Todeszeitbestimmung offenbarte später das eigentliche Ausmaß des Dramas. Den letzten Brief hatte die Baronin nämlich fast auf den Tag genau zwei Jahren zuvor geöffnet. Seitdem hatte sie tot in ihrer Küche gelegen. Und niemand hatte sie vermisst. Kein Verwandter, kein Arzt, kein Bäcker. Selbst ihrer Bank war nicht aufgefallen, dass es auf ihrem Konto außer den üblichen Überweisungen und Einzugsermächtigungen überhaupt keine Bewegungen für den normalen Lebensunterhalt mehr gegeben hatte. Ich fürchte, dass sie ohne die lockere Verkleidung auf der Terrasse wahrscheinlich heute noch da oben in ihrem Spinnennetz liegen würde.
Die Frau im Müll
Es sind Einsätze, um die sich wirklich niemand von uns reißt. So bedrückend, so traurig und verstörend ist der Anblick von Messies, die, einsam, krank an Körper und Seele und nicht selten völlig verarmt, zwischen Müllbergen hausen, die sie in ihrer Verzweiflung über Jahre und Jahrzehnte aufgeschichtet haben. Es gibt nichts, was diese Menschen nicht horten. Und darum ist Feuer in solchen Wohnungen immer gefährlich, weil die Brandlast so enorm hoch ist. Zuweilen entstehen im Laufe der Jahre auch ernsthafte statische Probleme.
Acht Stunden lang haben Kollegen einmal in Schwabing gebraucht, um an die Leiche eines verstorbenen Rentners (73) heranzukommen, der in seiner 60 Quadratmeter großen Zweizimmerwohnung 60 (!) Tonnen Altpapier gestapelt hatte. Bis sie ihn schließlich fanden, hatten sie in Schwerstarbeit unter Atemschutz drei große Abfallcontainer gefüllt. Danach waren diese und alle Nachbarwohnungen erst einmal ein Fall für den Statiker. Ich wage gar nicht darüber nachzudenken, was passiert wäre, wenn dieses
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