Notruf 112
Tourenprogramm aufnehmen könne. »Das ist ja toll. Wie haben Sie das denn gemacht?«, flötete sie begeistert und ich fühlte mich durchaus ein bisschen geschmeichelt.
Etwas später wurde mein Webcam-Fenster dunkel. Die Tiroler Variante der »Laterna magica« war soeben abgeschaltet worden.
Der Test
Wie holt sich ein Mensch Hilfe, der nicht hören und darum auch nicht sprechen kann? In München leben einige Tausend Gehörlose, die rund um die Uhr die Möglichkeit haben, sich über die Notrufnummer 112 bei uns per SMS oder Fax zu melden, wenn sie einen Arzt, den Rettungsdienst oder die Feuerwehr benötigen. Notrufe dieser Art kommen nicht sehr oft vor. Doch damit rechnen müssen wir natürlich immer. An einem Sommermorgen um 7.15 Uhr – eine Viertelstunde nach der Ablösung der Nachtschicht – war es so weit. Die Computerstimme las laut eine Notruf-SMS vor. Sie bestand nur aus vier Worten und löste auf der Stelle hektische Betriebsamkeit aus: »Dies ist ein Notfall!« Kein Name, keine Adresse, keine nähere Beschreibung des Notfalls. Ganz schlecht.
Wir riefen zurück. Wahrscheinlich sinnlos bei einem Menschen, der möglicherweise weder hören noch sprechen kann, aber doch immerhin einen Versuch wert. Vielleicht war er oder sie ja nicht allein. Wir ließen es mehrfach lange läuten, doch niemand hob ab. Die Ortung ergab, dass der Notruf vom Stadtrand kam. Zu ungenau. Also Rückverfolgung der Telefonnummer mithilfe des Providers und der Polizei, die uns wenige Minuten später den Namen und eine dazugehörende Festnetznummer mitteilte. Ein Allerweltsname, auf den wir zunächst gar nicht reagierten, obwohl wir einen Kollegen dieses Namens in unseren eigenen Reihen haben. Das Naheliegende übersieht man eben leicht. Wir riefen also sofort dort an. Es meldete sich eine Frau. Und dann der Schock: Es war tatsächlich die Frau unseres Kollegen Peter, Teamleiter der Nachtschicht! Er wohnt im Raum Augsburg und hatte erst wenige Minuten zuvor das Gelände unserer Wache verlassen – auf dem Motorrad! Er musste ein wirklich schwerwiegendes Problem haben, vielleicht sogar einen schweren Unfall erlitten haben. Aber wieso hatte er eine SMS geschickt und nicht angerufen? Und wieso ging er nicht mehr an sein Handy?
Fast bereute ich den Anruf schon. Es muss schrecklich für die Ehefrau gewesen sein, in völliger Ungewissheit auf ein Lebenszeichen ihres möglicherweise verunglückten Ehemannes warten zu müssen.
Weder uns noch der Polizei war in den letzten Minuten ein Motorradunfall gemeldet worden. Auf der Karte versuchten wir nachzuvollziehen, welchen Weg Peter genommen haben müsste. Konnte er unbemerkt in ein Waldstück, in einen Fluss, in eine Baustelle gestürzt sein und dort hilflos liegen? Eine zweite Ortung ergab gegenüber dem ersten Standort eine Abweichung von 15 Kilometern, nunmehr außerhalb des Stadtgebiets in Richtung Augsburg. Also schien er doch noch unterwegs zu sein. Was war denn nur los bei ihm? Als wir gerade erneut die Polizei einschalten wollten, kam ein Anruf: Peter! Sehr lebendig, bestens gelaunt und total erstaunt: »Was ist denn los? Ich habe ungefähr zehn Anrufe von euch auf dem Handy.«
Des Rätsels Lösung lag so nahe, dass keiner von uns darauf gekommen war. Es war ein Test gewesen, mit der Peter in seiner Nachtschicht herausfinden wollte, wie lange solch eine Notruf-SMS zu uns braucht. Er hatte sie gegen 6.30 Uhr selbst geschrieben und von seinem Handy abgeschickt. Wie das mit SMS dann so ist: Manchmal taumeln sie aus unerfindlichen Gründen ziellos durch Zeit und Raum und kommen, wann sie wollen. In der Zwischenzeit hatte Peter plötzlich so viel zu tun gehabt, dass er seinen Test völlig vergessen hatte und nach Dienstschluss um 7 Uhr heimfuhr, ohne die Kollegen zu informieren. Als die SMS dann schließlich doch noch bei uns eintraf, saß er schon längst auf seinem Motorrad. Und damit war das Notrufrätsel dann perfekt.
Und wir hatten mal wieder etwas dazugelernt. Jegliche Tests mit derart kryptisch- dramatischem Inhalt stehen bei uns seither auf dem Index. Zudem war es der klare Beweis, dass die SMS als Notrufmittel nicht besonders zuverlässig ist. Gehörlosen Menschen raten wir ohnehin, sich nach Möglichkeit im Falle eines Notfalls Unterstützung bei Nachbarn, Kollegen oder Passanten zu holen.
Zum Abschluss der ganzen Aktion haben wir alle zusammen in der Woche darauf locker vier Kilogramm Leberkäse verdrückt – selbstverständlich auf Kosten unseres Profitesters.
Die Last mit
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