Notruf 112
abzulösen. Doch leider löste sich da nichts – außer Marias Haut. Mittlerweile war ihre Hand eiskalt. Sie fror und kämpfte mit den Tränen.
Jetzt ist es zwei Uhr nachts und irgendwie scheinen die beiden von mir zu erwarten, dass ich die Lösung parat habe. Habe ich aber nicht. Ich kann mir nun aber vorstellen, was die Berater im Baumarkt tagtäglich mitmachen. Man ist ja schon dankbar, wenn man den Kundenwunsch erst einmal verstanden hat.
»Okay, ihr beiden. Ich schicke euch jetzt den Rettungsdienst. Vielleicht haben die Kollegen eine Idee und irgendetwas an Bord, das wie ein Lösemittel wirkt.« Dann füge ich väterlich beruhigend hinzu: »Nur mit der Ruhe, wir kriegen das schon hin.« Was deutlich optimistischer klingt, als ich es tatsächlich bin.
Im Geiste gehe ich die Möglichkeiten durch, welche Chemikalie den Kleber angreifen würde, ohne Marias Haut ernsthaft zu verletzten. Als allerletztes Mittel könnte ich den beiden immer noch zwei Kollegen mit dem Rüstwagen und einem Trennschleifer schicken. Dann würde Maria eben mit dem abgeschnittenen Geländerstück in der Hand in die Klinik fahren.
Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand mit allerhand Gerätschaften an oder im Körper in die Klinik gebracht wird. Und es kommt auch immer wieder vor, dass unsere Kollegen mit ihrem handwerklichen Geschick im Operationssaal assistieren. Wir sind Profis darin, wenn unter ärztlicher Überwachung allzu enge Ringe vom Finger oder gewissen anderen Körperteilen geschnitten werden müssen oder gar eine Hand im Fleischwolf steckt.
Ich muss an einen schon länger zurückliegenden Einsatz in einem Münchner Schrebergarten denken. Dort war ein Mann barfuß in eine Gartenharke mit gemein spitzen Zinken getreten. Drei Zinken hatten seinen Fuß durchbohrt, eine mitten durch den großen Zeh. Böse Sache, das. Es sah zum Fürchten aus und der Patient war vor Entsetzen so blass wie Mozzarella. Wegen der großen Gefahr einer unkontrollierbaren Blutung werden in den Körper eingedrungene Gegenstände wie Messer, große Scherben, Zaunspitzen, Werkzeuge, Stäbe oder ebensolche scharfen Zinken grundsätzlich erst unter OP-Bedingungen von den Chirurgen entfernt. Dummerweise stand der Stiel der Harke jedoch fast im rechten Winkel vom Fuß ab. Wie wir es auch drehten und wendeten: Mit diesem langen Stiel am Fuß passte der Ärmste partout nicht in den Rettungswagen. Da haben wir den Stiel vor Ort erst einmal abgesägt. Ich erspare Ihnen lieber die Details …
So etwas Ähnliches scheint nun auch Maria bevorzustehen, die mittlerweile vor Kälte mit den Zähnen klappert. Von der Rettungswagenbesatzung bekommt sie erst einmal eine Decke. Nach diversen erfolglosen Versuchen drücken die beiden Rettungsassistenten schließlich mit der kleinsten Kanüle eine Händedesinfektionslösung Millimeter für Millimeter zwischen Marias Hand und die Stange. Tatsächlich weicht der Kleber dadurch langsam auf. Ganz vorsichtig lassen sich zuerst die Finger lösen, dann die ganze Handfläche. Weit nach drei Uhr in der Nacht meldet sich der Kollege über Funk:
»Die Patientin wurde soeben befreit. Wo bringen wir sie hin?«
Die Ambulanz einer Chirurgischen Klinik in der Nähe wartet schon auf Maria, die mit einem dicken Handverband zur ambulanten Wundversorgung gefahren wird.
Die Kleberreste in Fingerform kleben übrigens heute noch an dem Geländer.
Eine Frage beschäftigte mich noch Tage später: Warum um Himmels willen hat eine Germanistikstudentin Sekundenkleber in der Handtasche? Die Antwort konnte ich ein paar Tage später zufälligerweise in einer Zeitung lesen, die diesen kuriosen Notfall aufgegriffen hatte. Dort nämlich erklärte Maria: »Damit habe ich bei Rock im Park meine kaputte Taschenlampe geklebt. Die Tube habe ich übrigens immer noch in meiner Tasche.« Na klar. Was sonst. Da hätte ich aber auch wirklich selbst draufkommen können …
Der rote Punkt
Ich kenne einen Brandermittler der Polizei, der in dem Ruf steht, ein wenig sonderbare Angewohnheiten zu haben. Der Mann ist ein anerkannter Fachmann, ein absoluter Experte mit großer Erfahrung, aber er hat eben einen kleinen Tick. Wenn er morgens das Haus verlässt, läuft in seiner Wohnung nur noch der Kühlschrank. Er hat immer einen Rauchmelder im Gepäck, wenn er auf Reisen geht. Der Mann verwendet bewusst keinen elektrischen Radiowecker. Die Stecker von Kaffeemaschine, elektrischer Zahnbürste und allen Mehrfachsteckdosen zieht er nach Gebrauch stets aus der Wand. Sein
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