Novecento - Die Legende vom Ozeanpianisten
wegen dem Blues, er war so gerührt, und das konnte man ja auch verstehen. Wirklich verrückt war aber, was ihm dann mit der ganzen Musik, die er im Kopf und in den Händen hatte, als nächstes einfiel: Er spielte den Blues, den er gerade gehört hatte: »Er war so schön«, gestand er mir am nächsten Tag zu seiner Rechtfertigung. Das muß man sich mal vorstellen. Er hatte wirklich keinen blassen Schimmer davon, was ein Duell ist, er hatte keinen blassen Schimmer. Er spielte diesen Blues. Zu allem Überfluß hatte der sich in seinem Kopf in eine Folge schlafmütziger Akkorde verwandelt, die wie bei einer Prozession hintereinander her marschierten, es war stinklangweilig. Er spielte tief über die Tasten gebeugt und genoß diese obendrein auch noch seltsamen Akkorde, dissonantes Zeug, Ton für Ton, er genoß sie wirklich. Die anderen, weniger. Als er fertig war, gab es sogar ein paar Pfiffe.
Da platzte Jelly Roll Morton endgültig der Kragen. Er ging nicht einfach zum Klavier, er sprang förmlich darauf zu. Leise, aber so, daß alle es deutlich hören konnten, zischte er ein paar unmißverständliche Worte.
»Und jetzt fahr zur Hölle, du Scheißkerl!«
Dann spielte er los. Aber spielen ist nicht das richtige Wort. Er jonglierte. Ein Akrobat. Alles, was man mit einer Klaviatur von achtundachtzig Tasten machen kann, machte er. In einem Wahnsinnstempo. Ohne einen Ton falsch zu spielen und ohne eine Miene zu verziehen. Das war gar keine Musik mehr: Das waren Taschenspiele, das war reine Magie. Es war ein Wunder, da half alles nichts. Ein Wunder. Die Leute gerieten außer Rand und Band. Sie schrien und klatschten, so was hatten sie noch nie erlebt. Es war ein Spektakel wie zu Silvester. In diesem Spektakel stand plötzlich Novecento vor mir. Sein Gesicht war enttäuscht wie kein anderes auf der Welt. Und auch ein bißchen erstaunt. Er sah mich an und sagte: »Aber der Kerl ist ja vollkommen schwachsinnig …«
Ich antwortete nicht. Es gab nichts zu antworten. Er beugte sich zu mir und sagte: »Komm, gib mir eine Zigarette …«
Ich war so verdattert, daß ich eine herausholte und sie ihm gab. Ich meine, Novecento war Nichtraucher. Er hatte vorher noch nie geraucht. Er nahm die Zigarette, drehte sich um, ging zum Klavier und setzte sich. Die Leute im Saal brauchten eine Weile, um zu begreifen, daß er da saß und tatsächlich spielen wollte. Sie mußten auch unbedingt ein paar abfällige Bemerkungen loswerden, Gelächter und vereinzelt Pfiffe, die Leute sind so, sie sind gemein zu den Verlierern. Novecento wartete geduldig, bis ringsum so was wie Ruhe eingekehrt war. Dann warf er einen Blick auf Jelly Roll, der an der Bar stand und aus einem Sektglas trank, und sagte leise:
»Du hast es nicht anders gewollt, du Scheißpianist.«
Er legte meine Zigarette auf den Rand des Klaviers. Ohne Feuer.
Und fing an.
(Ein unglaublich virtuoses Stück erklingt, vielleicht vierhändig gespielt. Es dauert nicht länger als eine halbe Minute. Es endet mit einer Breitseite von Fortissimo-Akkorden. Der Schauspieler wartet, bis es vorbei ist, dann spricht er weiter.)
So.
Die Zuhörer lauschten gebannt, ohne Luft zu holen. Vollkommen atemlos. Die Augen starr auf das Klavier gerichtet und mit offenem Mund, wie komplette Idioten. Auch nach dem vernichtenden Akkordhagel am Schluß, der aus hundert Händen zu bestehen schien, so daß es klang, als müsse das Klavier jeden Augenblick explodieren, blieben sie noch so: mucksmäuschenstill und total perplex. In dieser Totenstille stand Novecento auf, nahm meine Zigarette, beugte sich etwas vor, noch über die Tasten, und hielt sie an die Saiten des Klaviers.
Leichtes Knistern.
Er zog sie zurück, und sie brannte.
Wirklich wahr.
Sie brannte prächtig.
Novecento hielt sie in der Hand wie eine kleine Kerze. Er war Nichtraucher, er wußte nicht mal, wie man sie zwischen den Fingern hält. Er ging ein paar Schritte auf Jelly Roll Morton zu. Er gab ihm die Zigarette.
»Rauch du sie. Ich kann das nicht.«
Da erwachten die Leute aus ihrer Verzückung.
Ein Feuerwerk aus Rufen, Beifall und Radau prasselte los, ich weiß auch nicht, so was hatte es noch nie gegeben, alle schrien durcheinander, alle wollten Novecento anfassen, ein einziger Tumult, man sah überhaupt nicht mehr durch. Aber ich sah ihn, da mittendrin, Jelly Roll Morton, wie er nervös an dieser verdammten Zigarette zog und versuchte, das passende Gesicht zu machen, ohne es zu finden, er wußte nicht mal so richtig,
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