Novecento - Die Legende vom Ozeanpianisten
Riesenverarschung aus. Ich wollte es nicht glauben. Das war der größte Schwachsinn aller Zeiten.
»Du siehst das Meer jetzt seit zweiunddreißig Jahren, Novecento!«
»Von hier aus. Ich will es aber von da aus sehen. Das ist nicht das gleiche.«
Grundgütiger! Ich hatte das Gefühl, mit einem Kleinkind zu reden.
»Na gut, warte, bis wir im Hafen sind, dann beugst du dich vor und siehst es dir gründlich an. Es ist das gleiche.«
»Es ist nicht das gleiche.«
»Wer hat dir denn das erzählt?«
Das hatte ihm einer erzählt, der Baster hieß, Lynn Baster. Ein Bauer. Einer von denen, die vierzig Jahre ihres Lebens damit verbringen, sich krumm und bucklig zu schuften, und alles, was sie je gesehen haben, ist ihr Stück Feld und ein-, zweimal, am Markttag, die große Stadt ein paar Meilen entfernt. Nur daß ihm die Dürre darin eben alles genommen hatte, die Frau ihm mit irgendeinem Prediger für was auch immer durchgebrannt war, und seine Kinder vom Fieber weggerafft wurden, alle beide. Kurz, ein Schoßkind des Glücks. Also hatte er eines Tages seine Siebensachen gepackt und zu Fuß ganz England durchquert, um nach London zu kommen. Da er sich allerdings mit Wegen nicht besonders auskannte, war er schließlich statt in London in einem nichtssagenden Kaff gelandet, wo man aber, wenn man die Straße weiterging, zwei Kurven folgte und hinter einem Hügel abbog, zu guter Letzt plötzlich das Meer sah. Er hatte es vorher noch nie gesehen. Wie vom Blitz getroffen stand er davor. Es hat ihn gerettet, wenn man seinen Worten Glauben schenken will. Er sagte: »Es ist wie ein gigantischer Schrei, der schreit und schreit, und er schreit: ›Ihr Idiotenpack, das Leben ist etwas Unermeßliches, begreift ihr das denn nicht? Unermeßlich.‹« Er, Lynn Baster, hatte das noch nie gedacht. Dieser Gedanke war ihm einfach noch nie gekommen. Es war wie eine Revolution in seinem Kopf.
Vielleicht ist es ja so, daß auch Novecento … daß auch ihm das einfach noch nie in den Sinn gekommen war – diese Sache, daß das Leben unermeßlich ist. Wahrscheinlich ahnte er es sogar, aber noch nie hatte ihm das jemand so ins Gesicht geschrien. So ließ er sie sich tausendmal erzählen, von diesem Baster, diese Geschichte vom Meer und allem, und am Ende beschloß er, daß er das auch mal probieren müsse. Als er sich daranmachte, es mir zu erklären, sah er aus wie einer, der dir erklärt, wie ein Verbrennungsmotor funktioniert: wissenschaftlich.
»Selbst wenn ich noch Jahre hier oben bleibe, wird mir das Meer nie irgendwas sagen. Ich gehe jetzt von Bord, lebe jahrelang auf der Erde und von der Erde, werde ein ganz normaler Mensch, ziehe dann eines Tages los, komme an irgendeine Küste, schaue hoch und sehe das Meer: Es ist da, und ich werde es schreien hören.«
Wissenschaftlich. Mir kam es vor wie der größte wissenschaftliche Schwachsinn aller Zeiten. Ich hätte es ihm sagen können, aber ich sagte es nicht. So einfach war das nicht. Tatsache ist nämlich, daß ich Novecento gern hatte, und ich wollte, daß er irgendwann mal von Bord ging und für die Leute an Land spielte und eine nette Frau heiratete und Kinder hatte und überhaupt alle Dinge des Lebens, das vielleicht gar nicht unermeßlich ist, aber trotzdem schön, wenn du nur ein bißchen Glück hast, und Lust dazu. Also, das mit dem Meer schien mir kompletter Blödsinn zu sein, aber wenn es half, Novecento hier runterzubringen, sollte es mir recht sein. Ich dachte schließlich, daß es besser so war. Ich sagte ihm, daß es an seinen Überlegungen absolut nichts zu rütteln gab. Und daß ich mich freute, wirklich. Und daß ich ihm meinen Kamelhaarmantel schenken würde, er würde eine tolle Figur machen, wenn er so mit dem Kamelhaarmantel den Steg runterging. Auch er war ziemlich gerührt: »Aber du kommst mich doch besuchen, oder, da an Land …?«
Herrgott, hatte ich einen Kloß im Hals, steinhart, er machte mich fertig, wenn er so war, ich hasse Abschiede, ich fing an zu lachen, so gut es eben ging, die reinste Quälerei, und sagte, klar würde ich ihn besuchen, und wir würden seinen Hund über die Felder laufen lassen, und seine Frau würde einen Truthahn braten, und was weiß ich noch alles für Schwachsinn, und er lachte, und ich auch, aber tief innen wußten wir alle beide, daß die Wahrheit anders aussah, die Wahrheit war, daß jetzt alles zu Ende ging und da nichts zu machen war, es mußte so kommen, und jetzt kam es so: Danny Boodmann T. D. Lemon Novecento würde an
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