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Novecento - Die Legende vom Ozeanpianisten

Novecento - Die Legende vom Ozeanpianisten

Titel: Novecento - Die Legende vom Ozeanpianisten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
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aus eigener Tasche und ging an Bord der Virginian , er, der noch nie einen Fuß auf ein Schiff gesetzt hatte, das nicht den Mississippi rauf und runter schipperte. »Das ist der größte Blödsinn, den ich je im Leben gemacht habe«, erklärte er mit ein paar Flüchen untermischt den Journalisten, die ihn am Pier 14 im Hafen von Boston verabschiedeten. Dann zog er sich in seine Kabine zurück und wartete darauf, daß das Land zu fernen Lichtern und Erinnerung und Hoffnung wurde.
    Novecento für sein Teil interessierte sich nicht gerade brennend für diese Geschichte. Er verstand sie nicht mal so ganz. Ein Duell? Warum denn? Aber neugierig war er doch. Er wollte hören, wie zum Teufel der Erfinder des Jazz spielte. Er sagte das nicht aus Spaß, er glaubte daran: daß er wirklich der Erfinder des Jazz war. Ich glaube, er wollte was lernen. So war er. Ein bißchen wie der alte Danny: Er hatte keinen Sinn für Wettkämpfe, wer gewann, war ihm schnurzegal. Ihn erstaunte der Rest. Der ganze Rest.
    Um 21.37 Uhr des zweiten Reisetags auf der Virginian , die mit zwanzig Knoten auf den Weg nach Europa geschickt war, erschien Jelly Roll Morton hochelegant und in Schwarz im Ballsaal der ersten Klasse. Alle wußten haargenau, was sie tun mußten. Die Tänzer blieben stehen, wir von der Band legten die Instrumente weg, der Barkeeper goß einen Whisky ein, und die Leute verstummten. Jelly Roll nahm den Whisky, ging zum Klavier und sah Novecento in die Augen. Er sagte zwar nichts, aber was in der Luft lag, war: »Steh auf!«
    Novecento stand auf.
    »Sie sind der, der den Jazz erfunden hat, stimmt’s?«
    »Allerdings. Und du bist der, der nur spielt, wenn er den Ozean unterm Arsch hat, stimmt’s?«
    »Allerdings.«
    Sie hatten sich vorgestellt. Jelly Roll zündete sich eine Zigarette an, legte sie halb über den Rand des Klaviers, setzte sich hin und begann zu spielen. Ragtime. Aber er schien etwas noch nie Gehörtes zu sein. Er erklang nicht, er glitt dahin. Er war wie ein seidenes Unterkleid, das vom Körper einer Frau gleitet, und er tat es tanzend. Sämtliche Bordelle Amerikas steckten in dieser Musik, aber die noblen, die, wo sogar die Garderobiere hübsch ist. Jelly Roll kam zum Schluß, indem er ganz weit oben, am Ende der Klaviatur, unsichtbare zarte Noten verzierte, eine kleine Kaskade von Perlen auf einem Marmorboden. Die Zigarette lag immer noch auf dem Rand des Klaviers. Halb abgebrannt, doch die Asche war noch vollständig da. Es sah aus, als wolle sie nicht runterfallen, um keinen Krach zu machen.
    Jelly Roll nahm die Zigarette zwischen die Finger – wie gesagt: Er hatte Hände wie Schmetterlinge –, er nahm die Zigarette, und die Asche blieb, wo sie war, sie dachte gar nicht daran runterzufallen, vielleicht war ja auch ein Trick dabei, wer weiß, jedenfalls fiel sie nicht runter. Er stand auf, der Erfinder des Jazz, ging zu Novecento, hielt ihm die Zigarette mitsamt ihrer wohlbehaltenen Asche unter die Nase und sagte:
    »Du bist dran, Matrose.«
    Novecento lächelte. Er amüsierte sich. Im Ernst. Er setzte sich ans Klavier und tat das Blödeste, was er tun konnte. Er spielte Papi, komm zurück , ein selten dämliches Lied, Kinderkram, er hatte es vor Jahren bei einem Auswanderer gehört, und seitdem hatte es ihn nicht mehr losgelassen, es gefiel ihm, wirklich, ich weiß nicht, was er daran fand, aber es gefiel ihm, er fand es wahnsinnig ergreifend. Es war nicht gerade das, was man als Bravourstück bezeichnen würde. Mit etwas gutem Willen hätte sogar ich es spielen können. Er spielte es, indem er ein bißchen auf den Bässen klimperte, irgendwas verstärkte und zwei oder drei seiner Schnörkel anfügte, aber alles in allem war es ein dämliches Stück, und ein dämliches Stück blieb es auch. Jelly Roll machte ein Gesicht, als hätten sie ihm die Weihnachtsgeschenke geklaut. Er blitzte Novecento aus zwei Wolfsaugen an und setzte sich wieder ans Klavier. Er legte einen Blues hin, der selbst einen deutschen Maschinisten zu Tränen gerührt hätte, es klang, als wäre die gesamte Baumwolle sämtlicher Schwarzer der Welt darin enthalten und als würde er sie mit diesem Tönen ernten. Herzzerreißend. Alle standen auf. Sie schnieften und klatschten. Jelly Roll machte nicht mal die Andeutung einer Verbeugung, nichts, gar nichts, man sah, daß ihm das alles mächtig auf den Wecker ging.
    Wieder war Novecento an der Reihe. Es ging schon schlecht los, weil er sich mit zwei dicken Tränen in den Augen ans Klavier setzte,

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