Novecento - Die Legende vom Ozeanpianisten
wo er hinsehen sollte, und auf einmal begann seine Schmetterlingshand zu zittern, sie zitterte wirklich, ich sah sie und werde es nie vergessen, sie zitterte so stark, daß sich die Asche der Zigarette plötzlich löste und runterfiel, zuerst auf seinen schönen schwarzen Anzug und dann weiter bis auf seinen rechten Schuh, einen schwarzglänzenden Lackschuh, diese Asche wie ein weißer Hauch, er sah sie an, ich weiß es noch genau, sah den Schuh an, den Lack und die Asche, und er verstand; was es zu verstehen gab, verstand er, er machte kehrt, und langsam, Schritt für Schritt, so langsam, daß die Asche nicht abfiel, ging er durch den großen Saal und verschwand zusammen mit seinen schwarzen Lackschuhen. Und auf einem von ihnen war ein weißer Hauch, und er nahm ihn mit sich fort, und darin stand geschrieben, daß jemand gewonnen hatte, und das war nicht er.
Jelly Roll Morton verbrachte den Rest der Reise in seiner Kabine. Nach der Ankunft in Southampton verließ er die Virginian . Tags darauf fuhr er nach Amerika zurück. Allerdings auf einem anderen Schiff. Er hatte die Nase voll von Novecento und allem anderen. Er wollte zurück und damit basta. Gegen die Schiffswand gelehnt, sah Novecento vom Deck der dritten Klasse aus, wie er mit seinem schönen weißen Anzug und den ganzen schönen Koffern aus hellem Leder von Bord ging. Und ich weiß noch, daß er nichts weiter sagte als:
»Und ich scheiß auch auf den Jazz.«
Liverpool New York Liverpool Rio de Janeiro Boston Cork Lissabon Santiago de Chile Rio de Janeiro Antillen New York Liverpool Boston Liverpool Hamburg New York Hamburg New York Genua Florida Rio de Janeiro Florida New York Genua Lissabon Rio de Janeiro Liverpool Rio de Janeiro Liverpool New York Cork Cherbourg Vancouver Cherbourg Cork Boston Liverpool Rio de Janeiro New York Liverpool Santiago de Chile New York Liverpool, Ozean, genau in der Mitte. Und da, genau da, fiel das Bild runter.
Diese Sache mit den Bildern hat mich schon immer schwer beeindruckt. Sie hängen jahrelang da, und dann, ohne daß irgendwas passiert, wirklich ohne irgendwas, rums , fallen sie runter. Sie hängen da am Nagel, niemand tut ihnen was, aber sie fallen, rums , plötzlich runter wie Steine. Totenstille, ringsum alles reglos, nicht mal eine Fliege summt herum, und sie, rums . Es gibt keinen Grund. Warum gerade in diesem Augenblick? Man weiß es nicht. Rums . Was passiert denn einem Nagel, daß er beschließt, er kann nicht mehr? Hat auch er eine Seele, der arme Kerl? Trifft er Entscheidungen? Er hat lange mit dem Bild diskutiert, sie waren sich nicht sicher, wie sie es anstellen sollten, sie sprachen jeden Abend darüber, jahrelang, dann legten sie ein Datum fest, eine Stunde, eine Minute, einen Augenblick, diesen, rums . Oder sie wußten es schon von Anfang an, diese beiden, es war schon alles verabredet, hör mal, in sieben Jahren schmeiße ich alles hin, ja klar von mir aus, okay, also abgemacht, am 13. Mai, okay, gegen sechs, sagen wir dreiviertel sechs, einverstanden, na dann gute Nacht, ‘Nacht. Sieben Jahre später, 13. Mai, dreiviertel sechs: rums. Das versteht man nicht. Das ist eine von den Sachen, über die man besser nicht nachdenkt, sonst wird man verrückt. Der Moment, wenn ein Bild runterfällt. Wenn du eines Morgens aufwachst und sie nicht mehr liebst. Wenn du die Zeitung aufschlägst und liest, der Krieg ist ausgebrochen. Wenn du einen Zug siehst und denkst, ich muß hier weg. Wenn du in den Spiegel schaust und feststellst, daß du alt bist. Der Moment, als Novecento mitten auf dem Ozean vom Teller aufsah und zu mir sagte: »In New York, in drei Tagen, verlasse ich dieses Schiff.«
Ich war wie vom Donner gerührt.
Rums .
Ein Bild kann man ja nichts fragen. Aber Novecento schon. Ich ließ ihn eine Weile in Ruhe, aber dann fing ich an, ihn zu nerven, ich wollte verstehen, warum, es mußte einen Grund geben, man bleibt doch nicht zweiunddreißig Jahre auf einem Schiff und geht dann eines Tages plötzlich von Bord, so mir nichts dir nichts und noch dazu ohne seinem besten Freund den Grund zu sagen, ohne ihm irgendwas zu sagen!
»Ich muß mir da was ansehen«, sagte er.
»Was denn?« Er wollte nicht heraus mit der Sprache, und das ist nur zu verständlich, denn als er es endlich sagte, war, was er sagte:
»Das Meer.«
»Das Meer?«
»Das Meer.«
Das muß man sich mal vorstellen. Alles konnte man sich vorstellen, aber das doch nicht. Ich wollte es nicht glauben, das sah ganz nach einer
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