Novemberrot
er mit leiser Stimme.
»Ich gebe es ihnen, mach dir bloß deswegen keine Gedanken«, beruhigte Heinrich den niedergeschlagenen Familienvater und legte ihm als Zeichen der Besänftigung seine Hand auf die Schulter. Beim Hinausgehen wurden Michael noch auf Anweisung des Hausherrn von der Küchen-Magd ein Laib Brot, ein Stück selbst geräucherter Schinken und einige Flaschen Bier in seinen Stoffbeutel gesteckt. Dann stapfte er maßlos traurig darüber, seine Tochter nicht einmal gesehen zu haben, zurück nach Mayberg. Kreismüller sah aus dem Fenster seines Arbeitszimmers dem unerwarteten Heimkehrer noch eine Weile nach, bis dieser im Ort verschwunden war, drehte sich dann mit einem verächtlichen Grinsen um und fraß die Schokolade hastig auf. Das Bündel Briefe und das Schokoladenpapier versteckte er anschließend auf dem Speicher, im Hohlraum unter einer losen Bodenplatte. Niemals würde er Maria wieder hergeben. Niemals! Er brauchte nur etwas Zeit, um seinen aus dem Nichts aufgetauchten Widersacher endgültig aus dem Weg zu räumen. Maria, die mitbekommen hatte, dass ihr Mann das Haus wieder verlassen hatte, eilte zum Bauern .
» Was hast du ihm gesagt? Wie geht es nun weiter?«, fragte sie ihn mit brüchiger Stimme. Kreismüller antwortete nicht gleich. In seinem Kopf drehten sich alle Rädchen und er überlegte krampfhaft, wie er diese für ihn so missliche Situation am besten angehen sollte. Maria sah ihn erwartungsvoll mit großen Augen an, als er mit seinen Ausführungen begann: »Trenn dich von der Vorstellung, dass dies eben dein Mann war, den du gesehen hast. Rein äußerlich mag er ja noch wie der Michael Bergheim aussehen, den wir kannten, bevor sie ihn einberiefen. Doch der Krieg hat ihn völlig verbittert. Alles was er sagte klang so gefühllos, so von Selbsthass durchzogen. Aber er dankte mir schließlich dafür, dass du und Rosi bei mir unterkommen konntet. Am Ende hatte ich den Eindruck, dass Bergheim bereits realisiert hat, dass er euch nicht das bieten kann, was ihr benötigt! Ansonsten war aus ihm kaum was rauszukriegen. Das Essen und Trinken, was ich ihm geben ließ, musste ich ihm auch regelrecht aufdrängen.« Zufrieden bemerkte Heinrich, dass seine geheuchelten Worte bei Maria die gewünschte Wirkung zeigten. Sie senkte ratlos ihren Kopf und so ergriff er die Möglichkeit beim Schopf und nahm sie fest in seine Arme. Für Sekunden ließ Maria es geschehen, dann jedoch schossen ihr die Bilder von Rosi und ihrem Mann wieder in den Sinn. Sie stieß den Bauern mit beiden Armen zurück und verließ wortlos das Zimmer.
Es begann bereits zu dämmern, als Bergheim wieder auf dem Rückweg nach Mayberg war. Mit Tränen in den Augen kreisten seine Gedanken um Maria und Rosi und um die Worte Kreismüllers .
» Heinrich war zwar immer ein Großmaul, aber ein Lügner, nein ein Lügner war er nicht«, machte sich Michael Mut. Endlich, nach all den Jahren der Entbehrung und der Ungewissheit, war seine Familie zum Greifen nah, doch so wie es den Anschein hatte, für ihn zurzeit unerreichbar. Nicht einen Tag in den letzten Jahren hatte sich Michael so alleine gefühlt. Nicht einmal in den dunklen Wäldern rund um Kirkenes, wo er, wie es seine Aufgabe von ihm verlangte, nachts alleine die Lichter eines abgelegenen Scheinflugplatzes, zur Ablenkung der britischen Royal Air Force, einschalten musste. Selbst unter dem dauernden Beschuss im Abwehrkampf um Narvik waren solche Gefühle in ihm nicht aufgekommen. Eigentlich hatte er überhaupt keine Lust darauf, in sein Haus zurückzukehren. Jener Ort, wo er Liebe, Wärme und Kinderlachen erwartet hatte, war jetzt nur ein kaltes Gemäuer eisiger Stille. Da Michael den anderen Dorfbewohnern möglichst aus dem Weg gehen wollte, nahm er den Pfad entlang des Segbaches, welcher offen durch Mayberg dahinfloss. Die richtige Bezeichnung dieses Bächleins war eigentlich schlicht Mayberger Bach. Da jedoch dem Gewässer in mittelalterlichen Zeiten, als die Pest auch in dieser Gegend tobte, eine heilende Wirkung nachgesagt wurde, nannten ihn die Einheimischen seitdem »den gesegneten Bach« oder kurz »Segbach«. Gut fünf Kilometer hinter Mayberg mündete er dann in die Nette. Einen in den Sommermonaten recht seichten Fluss, in dem die Kinder badeten, der sich jedoch bei Hochwasser, wozu es recht häufig im Herbst und Winter kam, dann schlagartig in ein reißendes Wasser verwandelte. Da der Heimkehrer nun gut sechsunddreißig Stunden nicht mehr geschlafen hatte, war die
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