Novemberrot
wiedersehen zu können. Nie wieder mit der Kleinen im Garten zu spielen. Nie wieder dich festhalten zu können und dich zu lieben!«
»Wie kann das sein«, stammelte Maria unter Tränen, »du bist doch tot! Kein Lebenszeichen von dir, selbst nach dem Kriegsende keine Nachricht von dir!« Sie atmete schwer und ihre Stimme zitterte bei jedem ihrer Worte: »Ich habe gehofft und gebangt, doch irgendwann, als es für uns wirklich nur noch ums nackte Überleben ging, habe ich das getan, was ich für das Richtige hielt. Mein Leben wäre mir egal gewesen, aber unser Kind musste doch gerettet werden«, wisperte sie. Und wieder herrschte ein unbeschreibliches Chaos in Michaels Gefühlswelt. Denn in dieser kurzen Zeitspanne durchlief er alle Emotionen, angefangen von der überschwänglichen Freude, seine Frau endlich wiederzusehen, bis hin zu tiefstem Entsetzen, entfacht durch ihr ablehnendes Verhalten und ihre niederschmetternden Worte. Im Grunde genommen hatte er sogar Verständnis dafür, dass Maria alles zum Wohl der kleinen Rosi getan hatte.
»Ich bin dir nicht böse, dass du so gehandelt hast. Aber wo ist Rosi? Geht es ihr gut? Ist sie hier?« Hastig überhäufte er seine überforderte Frau mit einem Berg von Fragen.
»Rosi fühlt sich wohl hier und es mangelt ihr an nichts«, antwortete sie knapp. Maria war so aufgewühlt, dass sie kaum in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen. Doch sie besann sich für einen kurzen Moment und bemühte sich, nun halbwegs kontrolliert zu sprechen: »Rosi ist hier, ihr geht es gut. Das muss dir reichen.«
»Mir reichen? Ich will sie sehen und genau wie dich endlich in meinen Armen halten!«, entgegnete Bergheim erbost fordernd.
»Was glaubst du, wie eine Sechsjährige reagiert, wenn plötzlich ihr Vater wieder vor ihr steht? Wo ich ihr doch sagte, dass du im Himmel seist und es dir dort gut ginge. Glaub mir, es war bitter genug für uns beide, das zu akzeptieren. Und jetzt stehst du auf der Türschwelle einfach so und verlangst Dinge von mir, die nicht möglich sind!«, fuhr sie Michael unter Tränen an. Bergheim wollte gerade sein Verlangen bekräftigen, als schnell näher kommendes Schlagen von Pferdehufen auf dem Hofpflaster zu hören war .
» Bitte geh sofort!«, beschwor Maria ihren Mann.
»Warum?!«, fauchte dieser entsetzt und ergriff ihre rechte Hand. Sie wollte sich sofort losreißen, doch er hielt sie fest und schon im nächsten Augenblick baute sich Heinrich Kreismüller in Michaels Rücken bedrohlich gebärdend auf.
»Da will man nur kurz mal hören, was es in Mayberg denn Neues gibt und was wird getratscht, irgendein verlauster Landstreicher würde sich im Dorf herumtreiben. Und wo treffe ich den Galgenvogel an, ausgerechnet in meinem Haus. Verschwinde, sonst prügele ich dich von meinem Hof, du armseliger Narr!«, giftete der Hofbesitzer mit geballten Fäusten drohend den zerlumpten Fremden an.
»Heinrich, hör auf!«, schrie Maria, sich mit einer forschen Armbewegung von Michaels Griff befreiend, den Bauern an. Kreismüller kam herum, hielt inne und schaute dem Unbekannten tief ins Gesicht .
» Lass uns alleine!«, befahl er darauf Maria herrisch, mit einer solchen Aggressivität, die bei ihr auch nur den leisesten Ansatz eines Widerwortes im Keim erstickte und sie verschwand mit gesenktem Kopf in ein angrenzendes Zimmer. Heinrich hatte den Ankömmling erkannt und nun standen sich die beiden Auge in Auge gegenüber. Der bullige Kreismüller mit seinem kantigen breiten Schädel schien den ausgemergelten Kriegsheimkehrer dabei schon durch seine bloße körperliche Präsenz zu erdrücken wie eine Fliege .
» Der Fettsack steht gut im Futter«, schoss es Bergheim beim Anblick des Bauern unweigerlich in den Sinn .
» Was kann ich gegen ihn nur ausrichten?« Michael hatte sich gedanklich schon in Abwehrstellung gebracht, als der Gutsherr, für ihn umso überraschender, plötzlich mit ruhiger Stimme sprach: »Lass uns reden, komm rein und schließ die Tür, wir gehen in mein Arbeitszimmer.« Der Bauer stiefelte mit Bergheim im Schlepptau in den ersten Stock. Nachdem sie den Korridor erreicht hatten, öffnete Kreismüller die Tür des ersten Zimmers auf der rechten Seite und ließ Michael zuerst eintreten. Er selbst folgte sogleich und zog die Tür hinter sich ins Schloss. An den beigefarbenen Wänden des Raumes befand sich neben zahlreichen Jagdtrophäen auch eine Schwarz-Weiß-Fotografie von Heinrichs lange verstorbenen Eltern mit ihm als Halbwüchsigen. An der
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