Nukleus
hundertmal in der Minute. Das Geräusch der durch die Kanüle entweichenden Luft war kaum mehr zu hören. »Sie haben es geschafft«, sagte Wilhelm. »Du heilige … Sie haben es tatsächlich geschafft!«
»Und beatmen!«, verlangte Ella. Das Beatmungsgerät fing wieder an, leise zu fauchen. Sie blickte noch einmal zu dem Sanitäter bei den Leichen hinüber. Er beugte sich jetzt nicht mehr über den toten Mann – es musste ein Mann sein –, sondern hatte sich aufgerichtet und steckte etwas in seine Tasche, das sie nicht erkennen konnte. Er stiehlt, dachte Ella, er bestiehlt die Toten. Dabei starrte er sie noch immer an, mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht, und dann schüttelte er den Kopf, als wollte er sagen: Nicht, schauen Sie nicht her, sehen Sie mich nicht an.
Sie sah weg, auf Shirins Gesicht, aus dem langsam, ganz allmählich die Blaufärbung wich, dann auf den Monitor, Herz und Kreislauf arbeiteten wieder. Plötzlich spürte sie jeden Muskel und jeden Knochen in ihrem Körper. Sie blinzelte. Es kam ihr vor, als kehrte sie durch einen Zeitriss in die Gegenwart zurück. Sie sah, dass die blaue Verfärbung von Shirins Gesicht inzwischen fast ganz verblasst war, weil auch die Lungen wieder zu arbeiten begonnen hatten.
Der grau-rot gekleidete Sanitäter, der die Taschen der Toten durchsucht hatte, stand jetzt am Fuß der Rolltreppe. Er redete mit einem der Polizisten, sah ihn aber nicht an, sondern starrte die ganze Zeit zu Ella herüber, und dabei hatte er denselben Gesichtsausdruck wie vorhin. Wieder schüttelte er kaum merklich den Kopf. Seine Augen schienen in den Höhlen zu brennen. Wir sehen uns nicht zum letzten Mal, schienen sie zu sagen .
Ella hatte ein Gefühl, als zöge sich die Haut kalt um ihren Körper zusammen.
4
Die Sanitäter hoben das reglose Mädchen in den hell erleuchteten Patientenraum des Rettungswagens, arretierten die Trage und schlossen Shirin an die Apparate an. Ellas Sprechfunk knackte und knisterte. »Bringt sie ins Klinikum Neukölln«, verlangte der Leitende Notarzt.
»Nein«, sagte Ella in den Hörer des Funkgeräts. »Wir fahren ins Virchow.«
»Neukölln ist doch gleich um die Ecke«, sagte der Notarzt. »Die Kollegen sind schon informiert.«
»Das Virchow hat die beste Neurochirurgie«, sagte Ella. »Die Patientin ist stabil genug, um es bis dahin zu schaffen. Informieren Sie die Rettungsstelle. Wir warten noch auf den zweiten Sanitäter, dann fahren wir los.«
Sie schaltete das Funkgerät aus. Sie verstaute den Notfallkoffer in dem Fach neben der Trennwand zur Fahrerkabine, stieg in den Wagen und schnallte sich auf dem Betreuerstuhl an. Jetzt erst fiel ihr auf, dass sie noch immer ihre blutigen Gummihandschuhe anhatte. Sie zog sie aus und warf sie in den Abfallkorb. Die Ärmel ihrer Jacke waren ebenfalls blutbefleckt. Finn schlug die Türen zu, dann lief er nach vorn und schwang sich hinters Steuer. Die Sirene gab einen kurzen, jaulenden Heulton von sich.
Ella kontrollierte Sauerstoff, Infusion und Monitor, alles war in Ordnung. Jetzt wünschte sie sich nur noch Flügel. Sie ließ die Augen nicht von Shirins Gesicht. Die Farbe war unverändert, blass unter der Bräune, nicht mehr blau. Der Wagen ruckelte, als Finn ihn vom Gehweg auf die Straße steuerte. Die blendend hellen Lichtröhren an der Decke flackerten kurz, erloschen und gingen wieder an. Die Augäpfel unter Shirins Lidern reagierten nicht.
Plötzlich wurde die Seitentür aufgerissen, und der zweite Sanitäter kletterte herein. Ella sah die Fahrbahn unter ihm davongleiten, das blaue Schild U-Hermannplatz blieb zurück, die Zuschauer am Bordstein auch. Der Sanitäter zog die Tür wieder zu. Mit gesenktem Kopf ließ er sich auf den Tragestuhl neben der Tür fallen, und schließlich hob er den Kopf und sah Ella über Shirins Körper hinweg an.
Sie erkannte ihn sofort wieder, obwohl er von Nahem und im grellen Licht anders aussah als auf dem Bahnsteig. Wortlos starrte er ihr in die Augen, so eindringlich wie vorhin am Fuß der Treppe. Er saß jetzt sehr gerade, steif, seine Hände lagen auf den Oberschenkeln. Das Mädchen auf der Trage zwischen ihnen schien er gar nicht zu bemerken.
Der Sprinter beschleunigte, fuhr aber nicht so schnell, dass er die Patientin gefährdet hätte. Trotzdem spürte Ella die Fliehkraft, so wie sie den Zeitdruck spürte, der umso größer wurde, je kontrollierter sie fuhren. Der Sanitäter bewegte sich nicht, bis auf seine Lippen, die heftig zitterten. Rede mit ihm, dachte Ella.
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