Null
unter die Passanten. Am Ende des Tages verzogen sich die beiden immer in eine Gasse, und Fiodor öffnete seine Tasche und enthüllte die Früchte seiner Arbeit: Brieftaschen,Ringe, Uhren, Geldscheine und jeder beliebige andere Gegenstand, den er beim Spaziergang mit seiner Lieblingsschülerin geklaut hatte. Mit der Zeit brachte er Tanja seine Fertigkeiten bei.
«Aber warum hat er Ihnen beigebracht zu stehlen?», fragte Caine.
«Fiodor sagte, die wichtigste Fähigkeit eines Spions sei die, Dinge zu bekommen, die man eigentlich nicht bekommen sollte. Ein Spion ist im Grunde nichts anderes als ein Dieb. Es dreht sich alles ums Stehlen. Doch während ein Dieb Juwelen stiehlt, stiehlt ein Spion Geheimnisse.
Deshalb brachte mir Fiodor bei, eine Meisterdiebin zu werden. Zuerst lehrte er mich, wie man Geldbörsen stiehlt. Dann, wie man Schlösser knackt. Vorhängeschlösser, Riegelschlösser, Kombinationsschlösser, Autoschlösser – alle erdenklichen Schlösser halt. Es gab kein Schloss, das Fiodor nicht in weniger als zwanzig Sekunden öffnen konnte. Ich war nicht so geschickt, aber nach ein paar Wochen konnte ich die meisten Schlösser in ein oder zwei Minuten knacken.
Als ich vierzehn wurde, beschloss Dimitri, dass ich eine richtige KG B-Ausbildung absolvieren sollte. Zu der Zeit sprachen mein Vater und ich kaum noch miteinander, und als ich ihm sagte, dass ich fortgehen würde, war er glaube ich dankbar. Mich in der Nähe zu haben erinnerte ihn nur an das Unglück. Ohne mich konnte er so tun, als hätte er nie eine Familie gehabt.»
Nava hielt inne. Caine, der ihre Traurigkeit spürte, ermutigte sie weiterzuerzählen. «Sie gingen also auf die Spionageschule?»
«Ja», sagte Nava mit dem Anflug eines Lachens. «Ich ging auf die ‹Spionageschule›. Sie wurde das
Spezinstitute
genannt. Gemeinsam mit zehn anderen begabten Kindernnahm ich an einem Pilotprogramm teil. Ich hatte acht Stunden Unterricht pro Tag, sieben Tage die Woche. Zuerst lernten wir Sprachen. Obwohl sie jedem Englisch beibrachten, entschied die Partei, dass ich wegen meiner dunklen Hautfarbe außerdem Hebräisch und Farsi lernen sollte, damit ich im Nahen und Mittleren Osten eingesetzt werden konnte.
Ich bekam außerdem Unterricht in technischen Fächern, Politik, Geschichte, Kommunismus, Soziologie und Anthropologie. Nach dem Unterricht musste ich vier Stunden zu meiner Kampflehrerin, die mir
Systema
beibrachte, eine russische Kampfkunst.»
Nach dem Training aß Tanja zu Abend und humpelte zurück in ihr Zimmer, übel zugerichtet und mit blauen Flecken übersät, wo sie drei Stunden lang Hausaufgaben machte, bevor sie für die sieben Stunden Nachtruhe zusammenklappte und am Morgen alles wieder von vorn begann. In den ersten Wochen wachte Tanja jedes Mal geistig und körperlich erschöpft auf, doch da es nie eine Ruhepause gab, konnte sie nur weitermachen. Der Unterricht war schwer, aber das war nichts, verglichen mit ihren Kampfstunden.
Nava lächelte, als sie sich an Raissa erinnerte – die klassische Schönheit mit weißer Porzellanhaut und langem, pechschwarzem Haar. Obwohl sie nur 55 Kilo wog, war Raissa gewöhnt, mit tödlicher Präzision gegen Männer zu kämpfen, die viel größer als sie und mehr als doppelt so schwer waren.
Raissa gehörte zu der russischen Spezialeinheit Speznaz
.
Monatelang übte Tanja Boxschläge, Tritte, Würge- und Haltegriffe. Je mehr Techniken sie meisterte, desto härter nahm Raissa sie ran. Kaum hatte Tanja gelernt, sich gegen einen einzelnen Gegner zu verteidigen, zwangRaissa sie, es mit zwei oder drei Angreifern gleichzeitig aufzunehmen.
Ihr Training war erbarmungslos, und Tanja war gezwungen, ihren eigenen Kampfstil zu entwickeln und sich unberechenbar zu bewegen, um andauernde Angriffe aus jeder denkbaren Position abzuwehren. Sobald sich Tanja im Kampf Mann gegen Mann sicher fühlte, ging Raissa über zum bewaffneten Kampf.
Dabei begegnete Tanja zum ersten Mal dem Kampfmittel, das später zu ihrer Lieblingswaffe wurde: ein kurzer Kindjal-Krummdolch aus Dagestan. Raissa brachte Tanja bei, die Achillessehne eines Mannes zu durchtrennen, damit er nicht mehr laufen konnte. Sie zeigte ihr, wohin man stechen musste, um sein Rückgrat zu durchtrennen, und natürlich, wie man von unten in die Hoden stieß und das Messer drehte, um ihn vollständig außer Gefecht zu setzen.
«Sobald ich
Systema
gelernt hatte und mich mit einem Dolch behaupten konnte, schickten sie mich in den Schießstand.»
Michail,
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