Null
geschwollenes Handgelenk.
«Das ist deine erste Lektion: Achte immer darauf, dass die Handschellen fest sitzen, sonst könnte dein Gefangener entschlüpfen.»
Tanja sagte kein Wort, aber sie lief auch nicht davon. Sie war neugierig.
«Und jetzt Lektion Nummer zwei.» Dimitri beugte sich vor, zog mit einer Hand behutsam eine Nadel aus ihrem Haar und schnappte mit der anderen die Handschellen wieder zu.
«Hey!», rief Tanja. «Sie haben versprochen, mich freizulassen!»
«Und du hast versprochen, mir zuzuhören», entgegnete Dimitri und hielt ihr die Haarnadel vors Gesicht. «Lektion Nummer zwei: Wie man ein Schloss knackt.» In den nächsten zehn Minuten erklärte Dimitri ihr den Aufbau eines Schlosses und zeigte ihr, wie man selbst eine einfache Haarnadel als Schlüssel benutzen konnte.
Nachdem er seine Vorführung beendet hatte, gab er Tanja die Haarnadel zurück. Sofort machte sie sich ans Werk. Sie benötigte zwar mehrere Versuche, aber schließlich hörte sie ein Klicken, und die Handschellen fielen auf den Boden. Sie schaute strahlend auf, seit Monaten ihr erstes Lächeln.
«Sehr gut, Tanja. Jetzt erzähl mir von deinem Vater», befahl Dimitri.
«Sein Name ist Igor …»
Dimitris flache Hand traf Tanja so hart, dass sie vom Bett fiel.
«Lektion Nummer drei: Erzähle niemals irgendjemandem etwas von dir.» Dimitri hob eine Augenbraue. «Jedenfalls nichts Wahres.»
Tanja stand langsam auf, rieb sich die Wange, die rot anlief.
«Das sind genug Lektionen für heute. Wenn du mehr lernen willst, dann triff mich morgen nach der Schule in der Gasse. Wenn nicht, vergiss, was gerade geschehen ist. Wie auch immer du dich entscheidest, erzähle niemandem davon, was heute passiert ist, besonders Igor nicht.» Dimitri sah sie spöttisch an. «Es sei denn, du willst mehr als einen Klaps ins Gesicht.»
«Halten Sie das», sagte Nava, als sie eine Aderpresse um Caines Oberschenkel band. Er verzog das Gesicht, tat aber, was sie sagte. Sie wusste, wie sehr es wehtat, und war beeindruckt, wie viel Schmerz er ertrug.
«Erzählen Sie weiter», bat er. Schweiß tropfte von seiner Stirn. «Lenken Sie mich ab.»
«In Ordnung», sagte Nava und erinnerte sich an die Monate, die auf ihre erste Begegnung mit Dimitri folgten. «Wir trafen uns jeden Tag nach der Schule in der Gasse. Wir gingen immer durch die Straßen von Kitai Gorod, und Dimitri unterrichtete mich in russischer Geschichte. Ob er mir erzählte, wie Peter der Große während des Nordkrieges Estland eroberte, oder ob er von Lenins sozialistischer Revolution oder über moderne marxistische Philosophie sprach, ich konnte nicht genug kriegen. Wenn ich jetzt zurückblicke, ist mir klar, dass er mich mit Parteipropaganda indoktrinierte. Doch damals … tja, damals glaubte ich jedes Wort. Er war wie ein Vater und ein Lehrer in einem, und ich war seine eifrigste Schülerin.
Schließlich brachte er mir das Spionieren bei. Er begannzunächst langsam und fragte mich über die Leute aus, die uns auf unseren Spaziergängen begegneten. Welche Farbe hatte das Kleid der dicken Frau? Wie viele Kinder hatte sie? Was verkaufte der Händler mit dem Schnurrbart von seinem Karren? Ich war ein Naturtalent und lernte schnell, die Welt um mich herum aufzunehmen. Dimitri war beeindruckt, und schon ein halbes Jahr später schickte er mich in Kneipen, um Parteimitglieder zu belauschen, die der KGB der Illoyalität verdächtigte.
Nachdem Dimitri entschied, ich sei ‹begabt›, ließ er mich auch von anderen ausbilden. Ich lernte zu stehlen.»
Nava musste die Aderpresse neu binden, und Caine keuchte plötzlich heftig auf, fasste sich aber schnell wieder und biss die Zähne zusammen. «Hören Sie nicht auf», sagte er. «Ich will mehr hören.»
Nava nickte und behandelte sein Knie weiter, während sie ihre Geschichte fortsetzte.
«Mein Lehrer hieß Fiodor.» Nava erinnerte sich an den dunklen, kleinen Mann mit den buschigen Augenbrauen. Er redete nicht viel, und im ersten Moment wirkte er völlig unscheinbar. Er war der Typ Mann, den man bereits in dem Augenblick vergessen hatte, in dem man ihn zum ersten Mal sah. Es war seine angeborene Fähigkeit, nirgendwo aufzufallen, die ihn von anderen Männern unterschied. An Fiodor vorbeizugehen war so unvergesslich, wie an einer Backsteinmauer vorbeizugehen. Nur dass man von einer Backsteinmauer nicht im Vorbeigehen ausgeraubt wurde.
Am späten Nachmittag, wenn die Moskauer von ihrer Arbeit heimkehrten, mischten sich Fiodor und Tanja
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