Null
Tanja nicht nur ihre Mutter und ihre Schwester verloren, als die Bombe der Terroristen das Flugzeug in die Luft sprengte, sondern auch ihren Vater.
Jede Nacht fragte sie Gott, warum Er sie fortgenommen hatte, und weinte. Sie weinte, weil sie fort waren, weil ihr Vater sie nicht mehr in den Arm nahm und weil ihre Mutter nie wieder die Ungeheuer wegküssen würde. Vor allem aber weinte sie, weil sie insgeheim, im Grunde ihres Herzens froh war, dass es die beiden getroffen hatte und nicht sie. Und diesen Gedanken konnte sie sich niemals verzeihen.
«Ah!», entfuhr es Caine mit zusammengebissenen Zähnen.
«Entschuldigung», sagte Nava. Sie war so in Gedanken verloren gewesen, dass sie unabsichtlich gegen sein Knie gestoßen war. Sie wischte sich die Augen. «Wollen Sie das wirklich alles hören?»
«Ja», sagte Caine mit nachsichtigem Blick. «Ich glaube, es ist wichtig.»
Nava nickte. Er hatte Recht. Sie fuhr mit ihrer Geschichte fort.
«Ich war wütend. Ich war zwölf Jahre alt und suchte jemanden,dem ich die Schuld geben konnte. Eines Nachts hörte ich dann, wie mein Vater mit einem der Parteiführer telefonierte. Da erfuhr ich, dass afghanische Terroristen für den Flugzeugabsturz verantwortlich waren.
Am nächsten Tag fuhr ich mit einem Bus nach Moskau und marschierte den Lubjanka-Platz hinunter, um den KGB aufzusuchen.» Trotz ihrer Verbitterung musste Nava leicht lächeln, als sie an Tanja dachte – das ängstliche kleine Mädchen, das Terroristen töten wollte. Sie fragte sich, wie sich die Dinge entwickelt hätten, wenn sie ihren Vater nicht belauscht hätte. Wahrscheinlich hätte sie dann nie den Mann getroffen, der ihr zweiter Vater wurde: Sein Name war Dimitri Saitzew, und er brachte ihr in den nächsten Jahren allerhand bei. Unter anderem, wie man tötete.
Eines Tages, wenige Wochen nachdem sie an der Lubjanka abgewiesen worden war und gerade nach Hause ging, packte ein kräftiger Arm Tanja plötzlich um die Brust, ein anderer um den Hals. Sie wurde wild, trat und kratzte mit der Heftigkeit eines in die Enge getriebenen Berglöwen. Die Arme drückten fester zu.
Sie wusste nicht, dass Dimitri sie schon von diesem ersten Moment an testete, um zu erfahren, ob sich Tanjas Mut in Luft auflöste, wenn sie mit dem Tod konfrontiert wurde. Doch sie schreckte vor dem Angriff nicht zurück, sie kämpfte härter denn je, warf immer wieder ihren Kopf gegen die Brust des unsichtbaren Mannes, bis er alles um sie her dunkel werden ließ.
Als sie erwachte, war ihr linkes Handgelenk mit Handschellen an einen hölzernen Bettpfosten gefesselt. Sie befand sich in einer kleinen Einzimmerwohnung in der Nähe des Kremls. Kaum hatte sie ihre Umgebung wahrgenommen, sprang sie vom Bett und kugelte sich dabei fastden Arm aus. Sofort versuchte sie, die Handschellen zu lösen, aber es war zwecklos. Der Mann gab ihr ein paar Minuten, um sich über die Ausweglosigkeit ihrer Situation klar zu werden, bevor er sprach.
«Entspann dich.»
Tanja wirbelte herum, um ihm in die Augen zu sehen. Ihr Gesicht war eine Maske des Hasses. Sie holte tief Luft und spuckte. Ihr Speichel landete auf seiner Schulter.
Er schaute darauf hinab, sah dann wieder Tanja an und lächelte. «Gut gezielt.»
Tanja sagte nichts, lockerte aber ihren angespannten Kiefer ein wenig.
«Mein Name ist Dimitri. Wie ist deiner?»
Tanja funkelte ihn zornig an.
«Lass mich dir helfen. Dein Name ist Tanja Aleksandrova. Deine Mutter und deine Schwester kamen vor drei Monaten ums Leben, als eine Bombe afghanischer Rebellen ihr Flugzeug in die Luft sprengte.» Das Blut wich aus Tanjas Gesicht. «Ich bin vom KGB – ich bekämpfe solche Terroristen. Ein Freund erzählte mir, du willst auch kämpfen. Stimmt das?»
Tanja starrte ihn an und suchte seine kalten Augen. Dann nickte sie langsam.
«Gut. Wenn du helfen willst, musst du versprechen, alles zu tun, was ich dir sage.»
«Kommt darauf an, was Sie von mir wollen.»
«Sehr gut», brummte Dimitri. «Wenn du jetzt ohne Einschränkung zugestimmt hättest, hätte ich gewusst, dass du eine Idiotin oder eine Lügnerin bist. Freut mich, dass weder das eine noch das andere der Fall ist.»
«Mich würde freuen, wenn Sie mich frei ließen», entgegnete sie und rüttelte an den Handschellen.
«Wenn ich das tue, wirst du mir dann zuhören?»
Sie nickte.
Dimitri ging zum Bett und achtete darauf, dass sie ihn nicht treten konnte. Er schloss die Handschellen auf. Tanja riss ihren Arm weg und massierte ihr rotes,
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