Nullpunkt
Bewegung. Ekberg auf der anderen Seite marschierte voran mit der mühelosen Leichtigkeit einer leidenschaftlichen Läuferin. Ihre Augen waren ununterbrochen in Bewegung und übersahen nichts. Hin und wieder murmelte sie ein paar Worte in einen digitalen Recorder. Sie trug Penny Barbours Reserveparka über ihrer Lederjacke.
«Ich weiß genau, was Sie meinen», sagte Marshall. «Ich wünschte nur, es gäbe mehr davon.»
«Bitte was?»
«Die Tage werden schnell kürzer. Wir haben noch zwei, vielleicht drei Wochen mit brauchbarem Tageslicht, mehr nicht. Danach herrscht hier oben ewige Nacht, zwanzig Stunden am Tag und mehr, und wir sind dann nicht mehr da.»
«Kein Wunder, dass Sie es so eilig haben. Wie dem auch sei, Jimmy wird seine helle Freude haben mit diesem Himmel.»
«Jimmy?»
«Jimmy Fortnum. Unser Erster Kameramann.» Sie sah nach vorn zum Gletscher, der sich tiefblau vom strahlenden Azur des Himmels abhob. «Woher hat der Mount Fear eigentlich seinen Namen?»
«Von Wilberforce Fear, dem Forscher, der ihn entdeckt hat.»
«Wurde er damit berühmt?»
«Offen gestanden nein. Er starb hier draußen. Er erfror am Fuß der Caldera.»
«Oh.» Ekberg murmelte etwas in ihren Recorder. «Eine Caldera. Also handelt es sich um einen Vulkan.»
«Einen erloschenen Vulkan, ja. Ein ziemlich bizarres Gebilde, offen gestanden. Die einzige geologische Besonderheit in einem Tausende von Quadratkilometern großen Gebiet aus Permafrost. Die Wissenschaft streitet noch immer darüber, wie er entstanden sein könnte.»
«Dr. Sully hat gesagt, es wäre gefährlich. Was hat er damit gemeint?»
«Der Mount Fear ist im Grunde genommen nichts weiter als ein Kegel aus prähistorischer Lava. Die Witterung und der Gletscher haben ihn mürbe gemacht und brüchig.» Er deutete auf die messerscharfen Ränder des Gletschertals, dann auf eine der großen Höhlen, die den gesamten Fuß des Berges durchzogen. «Lavaröhren wie diese entstehen, wenn sich über einem aktiven Magmastrom eine Kruste bildet. Im Verlauf der Jahrtausende werden sie brüchig und stürzen sehr leicht ein. Der Berg ist wie ein riesiges Kartenhaus. Wir haben unsere Entdeckung tief im Innern einer dieser Röhren gemacht.»
«Und was ist mit den Polarbären, die er erwähnt hat?»
«Niedlich anzusehende Tiere, aber extrem aggressiv gegen Menschen, insbesondere heutzutage, denn ihr Lebensraum wird ständig kleiner. Wenn Ihre Leute eintreffen, stellen Sie besser sicher, dass niemand den eingezäunten Bereich verlässt, es sei denn, er ist bewaffnet. In der Basis gibt es ein Magazin mit großkalibrigen Gewehren.»
Sie kletterten schweigend weiter, bevor Ekberg erneut die Stille unterbrach. «Sie sind Paläoökologe, richtig?»
«Ja. Quartär-Paläoökologe, um genau zu sein.»
«Und was machen Sie hier oben?»
«Paläoökologen wie ich rekonstruieren verschwundene Ökosysteme aus Fossilien und anderen uralten Spuren. Wir versuchen zu bestimmen, welche Tiere in der betreffenden Zeit auf der Erde gelebt haben, wovon sie sich ernährt haben, wie sie gelebt haben und wie sie gestorben sind. Ich versuche zu bestimmen, wie das Ökosystem hier ausgesehen hat, bevor der Gletscher entstand.»
«Und jetzt, da sich der Gletscher zurückzieht, kommen die Spuren – die Proben – wieder ans Tageslicht?»
«Ganz genau.»
Sie sah Marshall aus durchdringenden, fragenden Augen an. «Und was für Proben sind das genau?»
«Pflanzenteile. Lehmschichten. Ein paar makroorganische Überreste wie Holz.»
«Schlamm und Holz», sagte Ekberg.
Marshall lachte. «Nicht sexy genug für Terra Prime, habe ich recht?»
Sie lachte ebenfalls. «Was können Sie damit anfangen?»
«Nun ja, bei Holz und anderen organischen Materialien können wir mit Radiokarbondatierung das Alter feststellen und auf diese Weise herausfinden, vor wie langer Zeit der Gletscher sie unter sich begraben hat. Schlammproben werden auf Pollen untersucht, die wiederum Hinweise auf die Pflanzenarten liefern, die vor der Vergletscherung in der Gegend wuchsen. Verstehen Sie, moderne Ökologen sind damit beschäftigt, die Welt zu analysieren, wie sie heute existiert, mit all den gewaltigen Einflüssen, die der Mensch im Verlauf derletzten hundert Jahrhunderte darauf ausgeübt hat. Doch mit den Proben und Beobachtungen und Analysen, die ich hier vor Ort durchführe, kann ich die Welt so rekonstruieren, wie sie war,
bevor
der Mensch alles dominierte.»
«Sie lassen die Vergangenheit wieder auferstehen», sagte
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