Nullpunkt
Mietwagen vorsichtig hinauf zur Front Royal Station, zahlte die Gebühr für das Befahren des Nationalparks und setzte seine Fahrt fort. Es gab schnellere Wege, um ans Ziel zu gelangen – der Skyline Drive war so kurvenreich wie eine Schlange, und die Höchstgeschwindigkeit betrug fünfunddreißig Meilen pro Stunde, sechsundfünfzigStundenkilometer –, doch Logan war früh dran und hatte diese Straße nicht mehr befahren, seit er ein kleiner Junge gewesen war und mit seinem Vater hier gecampt hatte. Geradeaus verschwand die Landschaft in einem samtenen Nebel und versprach eine Reise voller Nostalgie und Entdeckungen.
Im Radio spielte
La Bohème
– die Aufnahme von Toscanini aus dem Jahr 1946 mit Licia Albanese als Sopranistin –, und er schaltete es aus, um sich besser auf die vorbeigleitende Landschaft konzentrieren zu können. Der Shenandoah Valley Overlook: Hier hatten sie gehalten, erinnerte er sich, gefüllte Schinkensandwichs gegessen und ein paar Schnappschüsse mit der Kodak Instamatic gemacht. Als Nächstes kamen Low Gap, Compton Gap, Jenkins Gap, ein Aussichtspunkt nach dem anderen erschien vor seiner Windschutzscheibe und gab – beinahe widerstrebend – seinen phantastischen Ausblick auf den Shenandoah River und die gesprenkelten Hügel des Virginia Piedmont frei. Logan war im Flachland von South Carolina aufgewachsen und erinnerte sich deutlich, wie er als Junge beim Anblick dieser Landschaft überwältigt gewesen war. Niemals hätte er für möglich gehalten, dass es solch atemberaubende Ausblicke auf solch relativ engem Raum geben könnte.
Bei Meilenstein 27 passierte er den Abzweiger, der von der Piste hinauf zum Knob Mountain führte. Hier hatten er und sein Vater ebenfalls gehalten und den drei Kilometer langen Aufstieg unternommen. Es war ein warmer Tag gewesen, erinnerte sich Logan, und das Kondenswasser an seiner kalten Feldflasche um seinen Hals hatte getropft. Sein Vater war Historiker gewesen, kein sportlicher Mensch, und der Aufstieg hatte ihm die Luft geraubt. Oben auf dem Gipfel hatte er Logan von seiner Erkrankung erzählt.
Logan kehrte in die Gegenwart zurück. Bei Thornton Gapverließ er den Skyline Drive und folgte dem State Highway am Fluss entlang und aus dem Nationalpark heraus. Bei Sperryville bog er nach Süden auf die Route 231 und folgte den Wegweisern zur Old Rag Lodge.
Zehn Minuten später befand er sich im Schatten des Berges. Mit seinen tausend Metern war der Old Rag ein relativ kleiner Berg, doch die Klettertouren zu dem kahlen Gipfel waren berüchtigt für ihre Schwierigkeit. Old Rag war allerdings nicht für seine Freizeitmöglichkeiten bekannt, sondern wegen des luxuriösen Hotels, das in einem runden Tal ganz in der Nähe lag. Die Old Rag Lodge, ein Entwurf von Richard Morris Hunt, war ein opulentes Bauwerk im Stil der französischen Renaissance. Sie erinnerte an ein weitläufiges Schloss und wirkte im wilden, ländlichen Virginia völlig fehl am Platz.
Als Logan in die private Einfahrt bog und die sanfte Steigung hinauf beschleunigte, kam das Hotel in Sicht – eine traumhafte Mischung aus monolithischen Kalksteinmauern und leuchtend buntem Bleiglas in Stabfenstern. Das ausladende Gebäude wurde gekrönt von extravaganten Türmen und Kuppeln aus Kupfer.
Logan fuhr an dem üppigen Golfplatz mit seinen sechsunddreißig Löchern vorbei und dann über den sorgfältig gepflegten weißen Kiesweg zur überdachten Wagenauffahrt. Er übergab dem wartenden Hoteldiener die Wagenschlüssel und betrat das Gebäude.
«Sie möchten sich anmelden, Sir?»
Logan schüttelte den Kopf. «Ich bin hier wegen der Tour.»
«Die Besichtigung des Bunkers beginnt um zehn Uhr.»
«Ich habe eine private Führung arrangiert. Auf den Namen Logan.» Er schob eine Visitenkarte über den Marmor des Empfangsschalters.
Die Frau musterte die Karte, wandte sich ihrem Computer zu und tippte etwas ein. «Hier ist es. Dr. Logan», sagte sie. «Wenn Sie so freundlich wären, kurz in der Lobby Platz zu nehmen?»
«Danke sehr.» Logan nahm seine Aktentasche, durchquerte den hallenden, weitläufigen Saal und nahm zwischen zwei hohen korinthischen Säulen Platz, die in rote Seide eingeschlagen waren.
Während die Lodge über sieben Dekaden populär gewesen war bei den jagenden und Golf spielenden Aristokraten des Old Dominion, verdankte sie ihren Ruf in den vergangenen Jahren einer ganz anderen Eigentümlichkeit – hier gab es nämlich seit 1952 einen großen, streng geheimen unterirdischen
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