Nullpunkt
Großkatzen sehr ähnlich – aller Katzen, genaugenommen. Es sind zweifellos Raubtieraugen, groß und nach vorn gerichtet. Eine weite Iris, vertikale Pupillen. Ich wette, eine Autopsie ergibt eine Schicht
Tapetum lucidum
hinter der Retina.»
«Wie lange war es im Eis eingefroren?», fragte sie.
«Smilodons sind vor ungefähr zehntausend Jahren ausgestorben», sagte Marshall. «Ob wegen der voranschreitenden Vereisung und des damit kleiner werdenden Lebensraums und Nahrungsmangel oder wegen eines Virus, das die Barriere zwischen den Spezies übersprang, vermögen wir nicht zu sagen. Angesichts des Zeitpunkts, zu dem diese Höhle vom Gletscher zugedeckt wurde, würde ich schätzen, dass es eines der Letzten seiner Art gewesen ist, als es starb.»
«Wir sind bisher nicht einmal sicher, wie es dazu kam, dass es im Eis eingeschlossen wurde», fügte Faraday hinzu. Sein gewohnheitsmäßiges Blinzeln und die großen, wässrigen Augen verliehen ihm das Aussehen eines verblüfften Kindes. «Die Kreatur hat sich möglicherweise in die Höhle zurückgezogen, um Schutz vor einem Schneesturm zu finden, und ist dort erfroren. Vielleicht war sie verwundet oder am Verhungern. Oder vielleicht ist sie einfach an Altersschwäche gestorben. Eine weitere Analyse verschafft uns vielleicht Antworten.»
Kari Ekberg hatte ihre professionelle Gelassenheit schnell zurückerlangt. «Was ist das?», fragte sie und zeigte auf ein sauberes, vertikales Loch von vielleicht anderthalb Zentimeter Durchmesser ganz in der Nähe des eingefrorenen Kadavers.
«Wie Sie sehen, ist die Sicht nicht sehr klar», sagte Marshall. «Das Eis ist trüb und schmutzig und voller prähistorischen Sediments. Also hat unser Student Ang eine Sonde hergebracht.Sie sendet Schallimpulse aus, ganz ähnlich einem Sonar, und misst die zurückgeworfenen Echos.»
«Wie ein Fischfinder», sagte Ekberg.
«Gewissermaßen, ja», antwortete Marshall amüsiert. «Ein technisch sehr weit fortgeschrittener Fischfinder. Jedenfalls sind wegen der Verschmutzungen im Eis exakte Messungen nicht möglich, doch der Rumpf scheint knapp zweieinhalb Meter lang zu sein. Wir schätzen das Gewicht auf etwa vierbis fünfhundert Kilogramm.»
«Was mehr auf
Smilodon populator
hinweisen würde als auf
fatalis
», bemerkte Faraday.
Ekberg schüttelte langsam den Kopf, die Augen unverwandt auf die Fotografie gerichtet. «Erstaunlich», murmelte sie. «Tausende von Jahren unter einem Gletscher begraben.»
Schweigen senkte sich auf die Gruppe herab. Sie stand reglos da, und Marshall spürte, wie die Kälte allmählich entlang der Ränder seiner Kapuze hereinkroch und wie sie in seine Fingerspitzen und Zehen biss.
«Sie haben eine Menge Fragen gestellt», sagte er leise. «Irgendwelche Einwände, selbst eine zu beantworten?»
Ekberg sah ihn von der Seite an. «Schießen Sie los.»
«Wir wissen, dass Terra Prime eine Art Dokumentation plant, aber keiner von uns kann sich vorstellen, wie sie aussehen soll. Wir nehmen an, Sie werden unsere Arbeit hier vor Ort erklären und vielleicht unseren ungewöhnlichen Fund beschreiben. Die Entdeckung quasi für die Nachwelt aufzeichnen. Können Sie uns vielleicht weitere Einzelheiten verraten?»
Auf ihren Lippen bildete sich ein ironisches Lächeln. «Offen gestanden, Dr. Marshall, ist es nicht die Nachwelt, die unseren Sender interessiert.»
«Sprechen Sie weiter.»
«Ich fürchte, die genauen Details müssen Sie sich von Emilio Conti geben lassen, unserem Produktionschef. Doch ich kann Ihnen eins versprechen: Er betrachtet dies als eine echte Chance, als etwas, worauf er während seiner gesamten beruflichen Laufbahn hingearbeitet hat.» Ihr Lächeln vertiefte sich. «Ihre kleine Expedition steht im Begriff, berühmter zu werden, als Sie es sich in Ihren wildesten Träumen ausgemalt hätten.»
6
Die Dämmerung erwachte in einer wilden Explosion aus Farben über den Blue Ridge Mountains. Die Sonne stieg hinter dem Mount Marshall hervor und erfüllte den Herbsthimmel mit brillanten Schattierungen von Farben, wie man sie höchstens auf der Palette eines Malers finden konnte: Naphthol und Cadmium, Magenta und Zinnober. Die verschlafenen Gipfel und Hänge waren überzogen mit dem tiefen Grün und Blau von Eichen, Hemlocktannen, Ahornen und Hickorybäumen. Die Berge selbst schienen die kalte Luft auszuatmen, und in den dunklen Tälern kondensierte Nebel, während Dunstwolken die Gipfel umringten wie flauschige Wattekränze.
Jeremy Logan steuerte den
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