Nullzeit
Krankenhauses warten. Nach einer halben Ewigkeit konnte man bestätigen, dass ein gewisser Theodor Hast eingeliefert worden war, vor mehr als zwei Stunden. Dummerweise beantwortete ich die Frage, ob es sich um einen Angehörigen handele, mit »Nein«. Über seinen Zustand wusste man nichts. Ein Arzt war für mich nicht zu sprechen. Ob eine Jolante von der Pahlen anwesend sei, ließ sich nicht ermitteln. Eine Patientin dieses Namens war jedenfalls nicht registriert. Als ich Jolas Nummer wählte, ertönte das Freizeichen. Sie drückte mich weg. Danach war das Handy ausgeschaltet. Auch Theos Gerät war nicht auf Empfang.
In der Lobby gingen Menschen in Bademänteln und Hausschuhen spazieren und sahen mich neugierig an. Alle halbe Stunde kehrte ich an die Rezeption zurück und wiederholte meine Frage nach Theos Zustand. Mit dem immergleichen Ergebnis. Man wusste nichts Genaues und durfte mich nicht hinauf lassen. Ich könne nur darauf warten, dass Frau von der Pahlen irgendwann in die Empfangshalle komme, vielleicht um Kaffee am Automaten zu holen, wie es viele Patientenangehörige taten. Dann könne ich mit ihr sprechen.
Draußen wurde es dunkel. Die Rezeptionistin wurde gegen einen Pförtner ausgetauscht, der ein kleines Fernsehgerät einschaltete und eine Thermoskanne auspackte. Ich holte Kaffee am Automaten. Die Lobby war menschenleer. Es war sehr still. Ich betrachtete die hohen Glaswände, hinter denen die Lichter der Inselhauptstadt zwinkerten, davor Palmen und Kakteen, und empfand seltsamen Frieden. Über mir schliefen Menschen, von denen einige nicht wussten, ob sie die Nacht überleben würden. Ich streckte mich auf der Bank aus. Ich fühlte mich beinahe wohl in meiner bleiernen Müdigkeit.
Als ich erwachte, saß eine junge Krankenschwester auf dem Platz des Pförtners. Der Fernseher war ausgeschaltet, die Thermoskanne verschwunden. Draußen dämmerte es. Auf meine Erkundigung hin griff das Mädchen sofort zum Telefon, lächelte freundlich, stellte Fragen und lauschte den Antworten, die in Hochgeschwindigkeitsspanisch aus dem Hörer drangen. Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, erklärte sie mir auf Englisch, dass Theodor Hast bereits am vergangenen Abend ins Zentralkrankenhaus auf der Nachbarinsel verlegt worden sei. Soweit sie es verstanden habe, werde er nach einigen abschließenden Tests von dort aus direkt nach Deutschland geflogen, möglicherweise noch im Lauf des Vormittags.
Ich dankte ihr und fuhr nach Hause. Theos Zustand musste also stabil sein. Der Schlag auf den Kopf, das halbe Ertrinken, danach eine Stunde im kalten Wasser – das reichte für einen Kreislaufkollaps mit massiver Unterkühlung. Daran konnte man sterben, wenn nicht geholfen wurde. Aber Theo hatte Hilfe bekommen, war über den Berg und würde bald wieder auf den Beinen sein. In Deutschland. Dass ich Theo und Jola nicht wiedersehen würde, dass sie sich tatsächlich in Luft aufgelöst hatten, begriff ich trotzdem erst richtig, als ich ihre Koffer zum Flughafen fuhr.
Die Angestellte am Check-in zögerte lange und ließ sich immer wieder erzählen, was passiert war. Ein Tauchunfall. Krankentransport per Flugzeug zurück nach Deutschland. Mehrfach verglich sie die Namen auf den Tickets mit den Personalausweisen. Endlich nickte sie. Versprach, dass das Gepäck an die Adresse in Berlin zugestellt würde. Wir schoben die Tickets und Ausweise in die Dokumentenfächer der Koffer. Ich sah zu, wie die Koffer über das Fließband holperten und hinter dem Gummivorhang im Bauch des Flughafens verschwanden.
Am Abend setzte ich mich mit einer Flasche Wein auf die Terrasse und las Jolas Tagebuch in einem Zug durch. Danach erlebte ich, was Angst bedeutet. Ich lag wach im Bett und wartete stundenlang auf heulende Motoren, schlagende Autotüren und die Stimmen von grobschlächtigen Spaniern, die mir mitteilten, dass ich wegen versuchten Mordes an Theo Hast verhaftet sei. Erst in den Morgenstunden fiel mir auf, dass bereits drei Tage vergangen waren, ohne dass sich jemand bei mir gemeldet hatte.
Gegen Mittag fuhr ich erneut zum Flughafen, um meine neuen Kunden abzuholen. Nicht aus Pflichtgefühl, sondern weil ich keine Ahnung hatte, was ich sonst mit mir anfangen sollte. Gleich im Auto teilte ich ihnen mit, dass meine Assistentin, die mich normalerweise bei der Leitung der Tauchschule unterstützte, überraschend erkrankt sei, weshalb es möglicherweise zu organisatorischen Problemen kommen werde. Nancy und Martin zeigten sich unbeeindruckt.
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