Nullzeit
Hände und Füße von einem schrecklichen Blau. Am linken Ohr lief ihm ein Rinnsal Blut aus den Haaren. Ich ertastete eine Platzwunde und eine massive Schwellung. Unter Wasser hatte ich die Verletzung nicht bemerkt. Ich dachte gerade, dass er auf keinen Fall bewegt werden durfte, als er sich unter einem Hustenanfall aufbäumte. Ich drehte ihn in die stabile Seitenlage, ein Schwall Salzwasser kam aus seinem Mund. Jola brachte den Koffer, ich presste die Sauerstoffversorgung auf Theos Lippen.
»Fahr los«, sagte ich.
»Er wollte sich umbringen«, sagte sie.
Als hätte ich eine Frage gestellt, die diese Antwort verlangte. Mein Mund verzog sich vor Ekel. Selbstmörder stopfen sich vielleicht Bleigewichte in die Taschen, aber sie schlagen sich nicht die große Wasserpumpenzange über den Kopf, die unten neben der Dieselmaschine gelegen hatte.
»Fahr!«, schrie ich sie an. »Fahr so schnell du kannst!«
Einen Moment zauderte sie, dann drehte sie sich um und rannte zum Steuerstand. Die Maschine sprang an. Nie waren sechs Knoten langsamer gewesen. Ich hatte Theo in die Decke gewickelt, gab ihm Sauerstoff, massierte seine Gliedmaßen. Als ich sicher war, ihn kurz allein lassen zu können, drängte ich mich neben Jola in den Steuerstand und gab einen Funkspruch durch. Als mein Handy Netz fand, rief ich das Krankenhaus an. Sie versprachen, einen Hubschrauber zu schicken.
Die weitere Fahrt kam mir endlos vor. Während ich neben Theo kniete, der kein Lebenszeichen mehr von sich gab, musste ich immer wieder daran denken, wie normal er unter Wasser gewirkt hatte. Geradezu ruhig und entspannt. Als ginge es ihm gut.
Die Küstenwache bemerkte ich erst, als ihr Zodiac neben uns beidrehte. Wir waren noch zwei Kilometer vom Festland entfernt. Jola stellte den Motor aus. Auf einmal war die Aberdeen voller Menschen. Die Situation überforderte mich. Hektisch wehrte ich die Hände des Rettungspersonals ab. Es kann sein, dass ich sogar versucht habe, sie von Theo fernzuhalten. »No tocar! No se debe mover!« Nicht anfassen. Nicht bewegen. Meine eigene Stimme klang mir schrill in den Ohren. Jemand stieß mich zur Seite. Sie legten Theo auf eine Bahre und hoben ihn über die Reling. Jola kletterte hinterher. Ein Typ vom Rettungsdienst packte mich am Arm und wollte mich ebenfalls von Bord bringen. Ich schlug nach ihm. Die Aberdeen. Ich durfte sie nicht hier draußen im Stich lassen. Die Spanier tauschten ein paar schnelle Worte, zeigten auf mich und schüttelten die Köpfe. »We be back here!«, rief einer von ihnen. Der Außenborder heulte auf, der Zodiac schoss davon und zog eine Spur aus weißem Schaum hinter sich her.
Plötzlich war ich allein. Ich genoss die Stille. Keine Menschen, keine Vögel. Ein bisschen Wind und das Geräusch der Wellen. Das Verklingen des Außenborders, während der Zodiac in der Ferne aufs Festland zuraste. Ich machte keine Anstalten, die Aberdeen wieder in Gang zu setzen. Ich stand einfach da. Trug noch immer den Taucheranzug. Hatte mir nicht einmal die Haare abgetrocknet. Ich wusste nicht, ob ich schwitzte oder fror. Das Jetzt und Hier nahm mir den Atem wie eine Last von 1000 bar. Als läge ich an der tiefsten Stelle des Atlantiks. Von Playa Blanca stieg ein Hubschrauber auf. Er war das Letzte, was ich von Jola und Theo sah.
18
S ie hatte es so versteckt, dass es auf jeden Fall gefunden werden musste. Nicht so auffällig, dass es platziert wirkte. Aber auch nicht so gut, dass irgendein dämlicher Inselkommissar das Corpus Delicti übersehen konnte.
An den Tag nach der Tauchexpedition habe ich kaum Erinnerungen. Der gesamte Donnerstag ist wie ausgelöscht. Vielleicht habe ich ihn komplett verschlafen. Oder am Fenster verbracht, blicklos hinausstarrend, betäubt von der unfassbaren Leere, die mich umgab. Am Freitag rannte ich vor dem Frühstück aus dem Haus, bewaffnet mit Staubsauger und Putzeimer, als hinge mein Leben davon ab, die Endreinigung in der Casa Raya durchzuführen. Normalerweise wäre das Antjes Job gewesen. Sie hätte ihn am Samstagnachmittag erledigt, gleich nach Theos und Jolas Abreise, um das Haus für neue Gäste herzurichten, während ich mir einen freien Tag gegönnt hätte, bevor am Sonntag die nächsten Kunden anreisten. Aber jetzt war Antje nicht mehr da und ich hatte drei Tage frei. An den Sonntag wagte ich nicht einmal zu denken. Es schien mir vollkommen unplausibel, dass ich mit einem Schild am Flughafen warten sollte, auf dem »Martin und Nancy« stehen würde. Diese
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