Nullzeit
Affäre gefragt. Er hätte die Gäste der Dorset in Bezug auf den schrecklichen Streit am Vorabend als Zeugen vernommen. Taucher losgeschickt, die in hundert Metern Tiefe nach Theo gesucht und die Leiche vielleicht sogar trotz der Strömung geborgen hätten. Mit einer Kopfverletzung, die Taschen voller Taucherblei. Sie hätten mein Haus und erst recht die Casa gefilzt. Und zu guter Letzt das demonstrativ versteckte Tagebuch gefunden. Deutschland hätte einen Auslieferungsantrag gestellt. Man hätte mir dort den Prozess gemacht.
Wie besessen habe ich in den letzten Wochen immer wieder Jolas Plan Revue passieren lassen. Die Komplexität. Die Raffinesse. Die schiere Kälte, mit der sie ihre Überlegungen angestellt und Stück für Stück in die Tat umgesetzt hat, getragen von der Überzeugung, dass das Leben wie ein Kriminalroman funktioniert: Es verzeiht keine Schwachstellen. Natürlich möchte man glauben, dass nur ein kranker Verstand zu derart akribischer Bösartigkeit fähig wäre. Aber Jola ist nicht verrückt. Daraus folgt im Umkehrschluss: Was sie getan hat, ist normal. Vielleicht kein statistischer Regelfall, aber doch Teil des gewöhnlichen menschlichen Spektrums. Wenn auch von außergewöhnlicher Qualität.
Ich habe Bernie angerufen. Unzählige Male. Erst legte er auf, danach verweigerte er die Annahme des Gesprächs. Als er endlich bereit war, mit mir zu reden, fragte ich ihn, warum er in jener Nacht die Expedition abgesagt habe. Heraus kam, dass in seinen Augen die Absage von meiner Seite erfolgt war. Er habe eine SMS von mir erhalten, in der ich ihm mitteilte, dass ich zwar das Boot benötigte, aber ohne Besatzung, da ich meine Expedition mit Jola und Theo durchführen wolle. Ihm sei das gleich wie die Idee eines Wahnsinnigen vorgekommen.
Eine SMS von meinem Handy, wie es in Jolas Tagebuch steht. Ich fand die Nachricht in meinem »Sent«-Ordner. Mein schlechtes Englisch so gut getroffen, dass ich mich einen Moment fragte, ob ich das nicht doch selbst geschrieben hatte. Jola hatte den ganzen Abend auf der Dorset neben mir gesessen. Halb auf meinem Schoß. Selbstverständlich hatte sie Zugriff auf mein Telefon. Ich kann nicht anders, als ihre Genialität zu bewundern. Von Entführungsopfern hört man, dass sie sich mit den Kidnappern identifizieren, um mit der Lage fertig zu werden. Vielleicht muss ich Jola für genial halten, um das Unerträgliche zu verarbeiten.
Ich habe versucht, sie zu bedauern. Falls auch nur ein kleiner Teil ihrer Schilderung von Theos Exzessen zutrifft, hat sie die Hölle auf Erden durchgemacht. Ein Strafverteidiger würde argumentieren, dass sich eine Frau, die über lange Zeit brutal und systematisch gequält wird, in einem permanenten psychischen Ausnahmezustand befindet. Er würde das Mitleid von Schöffen und Richtern erregen und auf mildernde Umstände plädieren. Aber Jola braucht keine mildernden Umstände. Sie ist nicht die Angeklagte. Ich habe keine Lust, sie zu bemitleiden. Genauso wenig schaffe ich es, sie zu hassen, obwohl sie bereit war, mich lebenslänglich hinter Gitter zu bringen. Sie dafür zu lieben, wäre allerdings absurd. Möglicherweise ist Faszination das, was übrig bleibt, wenn man nicht weiß, was man fühlen soll.
Ist sie bereits mit dem Plan auf die Insel gekommen? Oder hat sie ihn erst hier gefasst? Wenn ja, wann? War es zunächst eine Art Spiel, das an irgendeinem Punkt in Ernst umschlug? Gab Theos Verhalten auf der Dorset den finalen Ausschlag? Oder war es doch meine Weigerung, am Strand von Mala mit ihr zu schlafen, die alles ins Rollen brachte? Inzwischen habe ich das Tagebuch so oft gelesen, dass ich manche Passagen auswendig kann.
Am Samstagmorgen rangierte ich den VW-Bus auf die Straße, ging zur Casa hinüber und holte die beiden Koffer. Ich lag gut in der Zeit für den Rückflug nach Berlin, den Theo und Jola gebucht hatten. Ihre Tickets und Personalausweise steckten in der Brusttasche meines Hemds. Es war, als kutschierte ich Gespenster zum Flughafen. Als ich den Schriftzug »Alles ist Wille« passierte, wandte ich den Kopf nach rechts. Die Beifahrersitze waren tatsächlich leer.
Ich dachte daran, wie ich am Tag des Mordanschlags auf der gleichen Strecke ins Krankenhaus gefahren war. In aller Eile hatte ich die Aberdeen zurück an ihren Liegeplatz gebracht und mich gezwungen, wenigstens die teuersten Stücke meiner Ausrüstung zu verladen. Nachdem ich wie ein Geisteskranker über die Insel gerast war, ließ man mich am Empfang des
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