Nullzeit
war er oft - wohl weil er Grelles Frage vergessen hatte - abgeschweift.
»Martin zufolge aber war dieser Mann sehr hochgewachsen - über einsachtzig«, betonte der Präfekt. »Das hat er dreimal gesagt - das mit der beachtlichen Körpergröße.«
»Das führt uns mehr als dreißig Jahre in die Résistancezeit während des Krieges zurück«, protestierte Boisseau.
»Das heißt, wenn wir Martin überhaupt glauben können. Wie zum Teufel soll er einen Mann wiedererkannt haben, den er in all den Jahren nicht mehr gesehen hat? Die Menschen verändern sich unglaublich …«
»Er hat darauf bestanden, den Leoparden gesehen zu haben. Er hat gesagt, der Leopard habe sich nicht sehr verändert, daß ihm - Martin - zuallererst der Gang des Mannes aufgefallen sei
- und dann konnte ich ihn nicht dazu bringen, den Gang des Leoparden zu beschreiben.«
»Das klingt höchst unwahrscheinlich …« Boisseau hatte jetzt die Krawatte abgelegt und saß in Hemdsärmeln da. Man hatte ihnen Kaffee gebracht, und der Raum war voller Qualm, da Grelle eine Zigarette nach der anderen rauchte. Der Regen peitschte immer noch gegen die Fenster.
»Das tut es«, stimmte Grelle zu, »aber ich war derjenige, der jedes Wort anhörte, und ich muß sagen, er hat mich erschreckt. Ich glaube, ich kann beurteilen, wann ein Mann die Wahrheit sagt und wann nicht …«
»Und dieser Hinweis auf den Leoparden - glauben Sie, er hat da wirklich die Wahrheit gesagt?« Der kleine, kompakte Boisseau gab sich keinerlei Mühe, die Skepsis in seiner Stimme zu verbergen. Unter dichten Augenbrauen sahen seine mandelförmigen Augen Grelle fragend an. »Ich persönlich habe noch nie von ihm gehört …«
»Sie sind auch jünger als ich.« Der Präfekt zündete sich eine neue Zigarette an. »Über den Leoparden gibt es eine Akte, eine jetzt schon sehr alte und verstaubte Akte. Und, ja, ich glaube tatsächlich, daß Gaston Martin die Wahrheit gesagt hat - jedenfalls das, was er für die Wahrheit hielt.«
»Was etwas völlig anderes sein könnte …«
»Durchaus. Sehen Sie, es gibt da etwas, was Sie nicht wissen. Der kommunistische Résistance-Führer, der während des Krieges als der Leopard bekannt war, ist tot.«
Am Samstagmorgen, dem 11. Dezember, flog David Nash, der soeben mit der Nachtmaschine aus Brüssel zurückgekehrt war, von New York nach Washington, um mit Andrew MacLeish im State Department eine rasch anberaumte Krisenbesprechung abzuhalten. Die beiden Männer schlossen sich in einem kleinen Raum im zweiten Stock ein, MacLeish hörte fünfzehn Minuten zu, ohne ein Wort zu sagen; es war eine seiner Stärken, konzentriert zuzuhören und einen mündlichen Bericht ohne Unterbrechung des Vortragenden in sich aufzunehmen; er sog die Informationen auf wie ein Schwamm.
»Und Lasalle hat wirklich nicht den kleinsten Hinweis auf die Identität dieses mysteriösen Kabinettmitglieds gegeben, das ein kommunistischer Geheimagent sein könnte?« fragte er schließlich. »Dieses Mannes, den er den zweiten Leoparden nennt - weil er den Decknamen des verstorbenen kommunistischen Résistance-Führers der Kriegszeit angenommen hat?«
»Nicht den geringsten«, erwiderte Nash sofort. »Er war mit Informationen sehr zurückhaltend. Er hat mir aber gesagt, daß er glaubt, zum Zeitpunkt seines Riesenkrachs mit Florian kurz davor gewesen zu sein, die Identität des Agenten aufzudecken - nach der Auseinandersetzung mit Florian aber mußte er aus Frankreich fliehen. Seitdem hat er seine Ermittlungen nicht weiterführen können, und er hat eine höllische Angst, daß für den Zeitpunkt des Florianschen Staatsbesuchs in Moskau ein Staatsstreich geplant sein könnte. Er hat den Verdacht, daß die Russen den Präsidenten in die Sowjetunion eingeladen haben, damit er im entscheidenden Moment nicht in Paris ist. Der Attentatsversuch hat Lasalle bewogen, mit mir Kontakt aufzunehmen. Er ist ziemlich sicher, daß der Staatsstreich sofort erfolgt wäre, wenn der Anschlag gelungen wäre - unter Führung des zweiten Leoparden.«
»Er will also, daß wir die Ermittlungen weiterführen, mit denen er begonnen hat …«
»Er hat eine Liste mit den Namen der drei Augenzeugen, die während des Krieges mit dem echten Leoparden zusammengearbeitet haben …«
»Eine Liste, die er Ihnen nicht geben wollte«, fauchte MacLeish.
»Daraus kann ich ihm kaum einen Vorwurf machen«, entgegnete Nash. »Ihm geht Sicherheit über alles, und das mag ich. Er wird die Liste nur dem
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