Nur 15 Sekunden
Zeit vollauf damit beschäftigt, Ehefrau und Mutter zu sein und als freie Journalistin für die
Gazette
zu arbeiten. Und nachdem ich den Preis für meine Artikelserie über die geplante Windfarm an der Küste von Nantucket gewonnen hatte, war noch viel mehr zu tun. Ich schrieb für andere Zeitungen und knüpfte die Kontakte, die mich schließlich hierher, zur
New York Times
, geführt hatten. Ich hatte diesem eifrigen jungen Mann kaum zugehört, als er sich an mich gewandt hatte, ich hatte mir kein bisschen Zeit für ihn genommen. Nun stand er wieder vor mir, mit genau der gleichen Miene. Manche Dinge sind einfach Schicksal. Diesmal würde ich ihm zuhören.
«Gehen wir doch zusammen Mittag essen», schlug er vor.
«Sicher, warum nicht?»
«Es ist so schön heute. Wir könnten uns irgendwo ein Sandwich holen und uns nach draußen setzen.»
Ich wollte schon protestieren:
Nein, heute nicht!,
wollte Abgaben und Zeitmangel vorschützen und irgendwelche Nachmittagstermine meines Sohnes, die mich daran hindern würden, später noch weiterzuarbeiten. Aber gerade an diesem Tag hatte ich tatsächlich nichts Dringendes im Terminkalender stehen. Im Gegenteil, es war der ideale Zeitpunkt für eine längere Mittagspause. Ich wartete auf Antwortmails und Rückrufe zu ein paar Reportagen, an denen ich dran war: neue Informationen zu den riskanten Wiederbelebungsplänen des Gowanus-Kanals in Brooklyn, einen neuen Interviewtermin mit dem stellvertretenden Bürgermeister, bei dem es um die städtischen Bemühungen gehen sollte, den Autoverkehr und damit den Abgasausstoß im Geschäftsviertel von Manhattan einzuschränken. Und ich erwartete neue Rückmeldungen über den Beginn der Säuberungsarbeiten auf einem Grundstück mitten in Brooklyn, dem ehemaligen Standort einer kleinen Chemiefabrik, das jetzt in das gewaltige Atlantic-Yards-Projekt eingehen sollte. Ein Projekt, für das bereits Hunderten von privaten und betrieblichen Anrainern ihr Besitz auf der Grundlage des Enteignungsgesetzes entzogen worden war. Atlantic Yards war ein höchst umstrittenes städtisches Großbauprojekt, es berichteten bereits mehr als genügend Reporter darüber. Ich hatte den Auftrag, mich auf den Umweltaspekt und die Säuberungsarbeiten auf diesem einen leeren Baugrundstück zu konzentrieren; vermutlich würden maximal zwei Artikel dabei herausspringen. Für mich bestand dieser Tag also im Wesentlichen aus Bohrarbeiten, wie ich das nannte: Wie bei der Ölförderung nahm man hier und da Probebohrungen vor und wartete ab, was dabei herauskam. Es waren alles in allem relativ kleine Aufgaben, die die
Times
mir übertragenhatte, um das Stehvermögen ihrer neuesten Errungenschaft zu testen. Ich mochte zwar eine preisgekrönte Journalistin sein, aber ich war und blieb doch eine ehemalige Freie, die in diese heiligen Hallen eingelassen worden war. Ich musste mich erst mal bewähren. Und während ich so unter ständiger Beobachtung an den mir zugewiesenen Artikeln arbeitete, hielt ich natürlich selbst nach einer Story Ausschau, die sich wirklich lohnen würde.
Aber heute hatte ich beim besten Willen keinen Termindruck. Nichts hinderte mich daran, meine Mittagspause mit Joe zu verbringen – ich hatte nur einfach keine rechte Lust dazu. Aber schließlich hatte ich ihm schon einmal nicht zugehört, schon einmal menschlich versagt, deshalb würde ich es tun.
«Klingt gut», sagte ich. «Dann treffen wir uns um eins unten am Empfang.»
Joe strahlte, und ich hätte schwören können, dass er vor Erstaunen die Augen aufriss.
Süßer Junge,
dachte ich mir. Ich schätzte ihn auf etwa zwei- oder dreiundzwanzig. Mit meinen neununddreißig Jahren war ich zwar noch nicht ganz alt genug, um seine Mutter zu sein, aber doch deren jüngere Schwester.
«Ich erwarte Sie», sagte er.
Und das tat er auch. Als ich mit fünf Minuten Verspätung hinunter in die Eingangshalle kam, lehnte er direkt neben dem Tisch des Sicherheitsbeamten an der Wand. Sobald er mich entdeckt hatte, kam er lächelnd auf mich zu. Er war ein sympathischer junger Mann: helle Haut, dunkelbraunes Haar und dazu diese einprägsamen Augen. Obwohl er kaum größer war als ich, strahlte er doch eine Energie aus, fast eine Art Charme, der die mangelnde Körpergröße wettmachte und ihn größer erscheinen ließ, als er war, bis man direkt neben ihm stand.
Auf dem Weg nach draußen wollte er sich bei mir einhaken, doch ich entzog ihm meinen Arm, indem ich gerade noch durch einen Spalt in die Drehtür
Weitere Kostenlose Bücher