Nur 15 Sekunden
«richtig» mit ihm verabreden würde. Ich weiß nicht, warum ich mir überhaupt Gedanken über die Gefühle dieses Jungen machte. Vermutlich ein geschlechtsspezifischer Reflex. Wie die meisten Frauen war auch ich dazu erzogen worden, immer das nette Mädchen zu spielen, und offensichtlich nicht in der Lage, mir das wieder abzugewöhnen.
Wir gingen ein paar Straßen weiter zum Bryant Park und plauderten auf dem Weg dorthin. Es war Oktober, draußen wurde es zunehmend kühler. Bald würde der Herbst demWinter weichen. Bis vor kurzem hatte ich mich noch darauf gefreut, mich geradezu nach der Kälte und den langen, dunklen Abenden gesehnt, an denen ich mich wie in eine Höhle zurückziehen wollte. Der Winter war die Jahreszeit, zu der man sich nach Herzenslust seiner Einsamkeit hingeben konnte; die sonnigen Verlockungen von Frühling, Sommer und Herbst hingegen waren schwierig, fast schon belastend, wenn man unglücklich war. Die ersten Jahreszeitenwechsel ohne Hugo waren eine Qual für mich gewesen. Jetzt, beim zweiten Mal, hatte der Schmerz schon ein wenig nachgelassen, doch er war immer noch da. Ich hatte wieder an Kraft gewonnen; trotzdem hatte ich den Härten eines weiteren einsamen Winters erwartungsvoll entgegengesehen. Und sei es nur, um mir selbst zu beweisen, dass ich zäh genug war, alleine mit dem Leben als Witwe fertig zu werden. Ich hatte mich dieser neuen Herausforderung stellen wollen, hatte sie förmlich herbeigewünscht – bis mich der Umzug nach New York und die Begegnung mit Rich wachgerüttelt hatten.
«Wie gefällt es Ihnen denn hier?», fragte ich Joe.
«Ganz gut, glaube ich. Es ist alles noch sehr neu. Wahrscheinlich braucht man einfach eine Weile, um sich an einem neuen Ort einzuleben.»
«Ich dachte, Sie sind froh, in Amerika zu sein.»
«Bin ich auch. Keine Frage. Es ist nur einfach alles ganz anders, das lerne ich erst so nach und nach. Wie ist es denn mit Ihnen?»
«Ich bin hier aufgewachsen», erzählte ich ihm. «Ein wichtiger Grund für meinen Umzug war, dass meine Mutter noch hier lebt.»
«Wohnen Sie bei ihr?»
Ich hätte fast losgelacht, schließlich wohnte ich seit zweiundzwanzig Jahren nicht mehr bei meiner Mutter. «Nein.Sie ist in einem Heim für Alzheimerpatienten in der Upper West Side.»
«Das tut mir leid.»
«Vermissen Ihre Eltern Sie denn nicht auf der Insel?»
«Meine Mutter schon. Meinen Vater kenne ich gar nicht.»
«Haben Sie noch Geschwister?»
«Nein. Ich war immer mit meiner Mutter allein.» Er brach ab, und ich wurde neugierig, fragte aber nicht weiter nach.
«Ich auch», sagte ich. «Zumindest, seit ich neun bin.»
Joe sah mich an und wartete offenbar auf weitere Erklärungen. Als ich neun Jahre alt war, hatte mein Vater Karl sich das Leben genommen. Er war aus dem Fenster seines Büros gesprungen, mitten in Manhattan. Er war ein wunderbarer Mensch gewesen, Kreativdirektor einer Werbeagentur, erfolgreich, beliebt und vermögend. Vor allem aber hatte er als Kind den Holocaust überlebt. Im Konzentrationslager war er meiner Mutter zum ersten Mal begegnet: Er hob Gräber aus für die Toten, sie stopfte und bügelte für die Frau des Lagerkommandanten. Die Narben aus jener Zeit waren tief und so schmerzlich, dass mein Vater zeit seines Lebens unter ihnen litt. Er beschloss, dem Schmerz und dem Lärmen der Erinnerungen ein für alle Mal Einhalt zu gebieten. Meine Mutter Eva und ich konnten bei aller Trauer verstehen, was ihn zu diesem furchtbaren Schritt getrieben hatte. «Er wollte sie einfach nicht mehr hören», sagte meine Mutter zu mir, und dabei beschrieb sie mit beiden Händen einen Kreis um ihren Kopf, eine Geste, die mir sehr vertraut war und für die «Stimmen» stand. Damals versprach sie mir auch, dass sie selbst einen solchen Schritt niemals tun würde. Sie würde mich nie, niemals verlassen. Meine Mutter war eine starke Frau, und ich zweifelte keinenMoment an ihren Worten. Wir zogen von New Jersey nach Brooklyn – so wie auch ich es später als Witwe mit meinem einzigen Kind machen sollte – und fingen ein neues Leben an. Meine Mutter arbeitete viele Jahre lang in der Bekleidungsbranche und nähte Couture-Brautkleider. Noch heute sehe ich ihre beweglichen Finger, wie sie nacheinander winzige Perlen auf hauchdünne Nadeln auffädeln. Ich wuchs zu einer ganz normalen jungen Amerikanerin heran, so fleißig und optimistisch, wie es nur Einwandererkinder sein können. Jetzt waren wir wieder vereint, hier in der Stadt des Neuanfangs.
Aber das
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