Nur 15 Sekunden
alles ging Joe wahrhaftig nichts an.
«Mein Vater ist früh gestorben», sagte ich, ohne es weiter auszuführen.
An der Sixth Avenue bogen wir in den Park ein, wo es bei diesem schönen Wetter recht voll war. Die Leute saßen auf dem runden Brunnenrand, und es dauerte ein paar Minuten, bis wir auf der großen Wiese einen Platz fanden. Joe zog seine Jeansjacke aus und legte sie ins Gras, damit ich mich darauf setzen konnte. Ich fand diese Geste ebenso rührend wie überflüssig. Nicht einmal mein geliebter, überaus aufmerksamer Mann hatte so etwas je für mich getan. Allerdings fand ich es durchaus nett, damit vor Grasflecken auf dem Rock geschützt zu sein. Ich zog die Beine an den Körper und legte mein Sandwich auf meinem Schoß zurecht. Dann biss ich hungrig hinein.
«Und wo wohnen Sie jetzt?», fragte Joe.
«Brooklyn», antwortete ich mit halbvollem Mund.
«Mich hat so ein Immobilienfuzzi nach Washington Heights verfrachtet, aber ich glaube, ich ziehe bald wieder um.»
«Haben Sie denn keinen Mietvertrag?»
«Doch, aber die Vermieterin ist eine ganz liebe alteDame, die löst den Vertrag bestimmt wieder auf, wenn ich sie darum bitte. Wo genau in Brooklyn wohnen Sie denn?»
«In Boerum Hill. Wir haben eine Doppelhaushälfte mit großem Garten, wirklich sehr schön. Und gut für meinen Sohn.» Ich fing eine eingelegte Gurkenscheibe auf, die aus dem Wachspapier um mein Sandwich gerutscht war, und steckte sie in den Mund.
«Irgendwann will ich auch mal Kinder haben.» Joes Lächeln wirkte schneeweiß im Sonnenlicht, doch weiter hinten entdeckte ich einen Zahn, der dunkel und faul aussah. Vielleicht war es auch einfach eine Zahnlücke. Als Reporterin war ich darauf gedrillt, aus kleinen Details Geschichten herauszulesen. An Joes Mund konnte ich erkennen, dass er in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen war, auf einer Insel, deren Wirtschaftswachstum, wie ich aus eigener Erfahrung wusste, von Tourismus und Luxusimmobilien bestimmt wurde. Wenn man dort lebte und keine besondere Ausbildung oder Fähigkeit besaß, schlug man sich eher schlecht als recht durch. Joe hatte ja bereits erzählt, dass er das Kind einer alleinstehenden Frau war; jetzt wusste ich auch, dass sie sich keine Zahnbehandlung leisten konnten, zumindest nicht für den Teil des Mundes, den man nicht unmittelbar sah. «Aber erst», fuhr Joe fort, «will ich mich auf meine Karriere konzentrieren.»
«Gute Entscheidung. Sie sind ja noch jung. Basteln Sie an Ihrer Karriere, suchen Sie sich einen guten Job, dann können Sie immer noch eine Familie gründen.»
«So haben Sie das auch gemacht, stimmt’s?»
«Nein, eher nicht.» Ich musste lächeln, als ich daran zurückdachte. «Hugo hatte gerade sein Jurastudium fertig, als Ben sich anmeldete, und ich hatte noch nicht mal angefangen, als freie Journalistin zu arbeiten. Aber irgendwie ist dann doch noch alles gutgegangen. Zumindest eine Zeitlang.» Ich schloss kurz die Augen und sah dann direkt in die Sonne, um selbst den leisesten Anflug von Tränen schnell trocknen zu lassen.
Joe beugte sich vor. «Es tut mir so leid, dass Sie Ihren Mann verloren haben. Das tut mir wirklich furchtbar leid.»
«Sie können ja nichts dafür.» Ich biss in mein Sandwich, kaute und schluckte mehr oder weniger mechanisch, gegen mein inneres Gefühl. Mein Hunger war verschwunden. «Wahrscheinlich haben Sie es auch in der
Gazette
gelesen.»
Er nickte. «Das hat bestimmt jeder gelesen. Es stand ja auf der Titelseite.»
Natürlich. Als Anwalt für Umweltrecht mit einer Kanzlei auf Martha’s Vineyard hatte Hugo Mayhew sich einen Namen gemacht. Anfangs kamen seine Klienten fast nur von Cape Cod oder aus Boston, am Ende dann aus aller Herren Länder. Er war noch keine vierzig gewesen, nicht nur ein geschätzter Bürger der Insel, sondern der ganzen Welt (und natürlich der ganz besondere Schatz meines Herzens). Sein Tod war vielen sehr nahegegangen. Schon als er noch lebte, hatten Ben und ich genug über seine Arbeit gewusst, um stolz auf ihn zu sein, und mich hatte er dazu inspiriert, über Umweltthemen zu schreiben. Doch erst nach seinem Tod wurde uns das ganze Ausmaß seiner Leistungen richtig klar. Jahrelang hatte Hugo sich als Fürsprecher der Umwelt engagiert, bis der Rest der Welt seiner Vision schließlich zu folgen begann. Und als es endlich so weit war, schwamm er ganz oben auf der Welle mit. Ich fragte mich häufig, ob er, hätte er weitergelebt, nicht irgendwann einen hohen Regierungsposten bekleidet und
Weitere Kostenlose Bücher