Nur Der Tod Bringt Vergebung
mit kaum verhohlenem Neid, bis er sich seiner Gefühle gewahr wurde und sie entschlossen zu verscheuchen suchte.
Er hatte keinen Grund, irgend jemanden zu beneiden, sagte er sich. Hatte er nicht an seinem zwanzigsten Geburtstag freiwillig auf all seine Rechte als erblicher gerefa oder Friedensrichter am Hof des Thans von Seaxmund’s Ham verzichtet? Ja, er hatte den alten Göttern im Königreich Ostanglien abgeschworen und war dem neuen Gott gefolgt, dessen Kunde von Irland zu ihnen gedrungen war. Mit jugendlichem Überschwang hatte er sich einem Iren angeschlossen, der zwar ein fürchterliches Sächsisch sprach, seine Zuhörer aber dennoch von seiner Sache zu begeistern vermochte. Fursa, der Ire, hatte Eadulf nicht nur Lesen und Schreiben in seiner Muttersprache Sächsisch beigebracht – eine Sprache, die Eadulf noch nie zuvor geschrieben gesehen hatte –, sondern ihn auch Irisch und Lateinisch gelehrt und ihn zum Glauben an Jesus Christus, den Sohn des namenlosen Gottes, geführt.
Dabei hatte sich Eadulf als ein so eifriger und begabter Schüler erwiesen, daß Fursa ihn mit entsprechenden Empfehlungsschreiben in sein Heimatland Irland geschickt hatte, und zwar zuerst in ein Kloster in Durrow, wo junge Menschen aus allen Teilen der Welt erzogen und ausgebildet wurden. Ein Jahr lang hatte Eadulf in Durrow bei den frommen Brüdern studiert, und da er in dieser Zeit viel vom Ruhm der heilkundigen irischen Apotheker hörte, hatte er anschließend vier Jahre lang das berühmte Kollegium der Medizin in Tuaim Brecain besucht. Dort erfuhr er vom legendären Midach, dem Sohn Diancechts, aus dessen dreihundertfünfundsechzig Gelenken, Sehnen und anderen Körperteilen nach seinem gewaltsamen Tod dreihundertfünfundsechzig Kräuter gewachsen waren, jedes Kraut mit der Gabe versehen, den Teil des Körpers zu heilen, dem es entsprossen war.
Während dieser Zeit hatte er in sich einen immer größeren Wissensdurst verspürt und die Entdeckung gemacht, daß er die Gabe besaß, Rätsel und schwierige Rechtsfälle zu lösen. Was für andere auf ewig ein Geheimnis blieb, war für ihn oft einfach zu durchschauen. Er nahm an, daß diese Gabe damit zusammenhing, daß er durch seine Familie, deren Oberhaupt die Stellung eines erblichen gerefa innehatte, eine recht genaue, mündlich überlieferte Kenntnis der Gesetze der Sachsen erworben hatte. Manchmal, wenn auch nicht sehr häufig, dachte er mit Bedauern daran, daß er, hätte er Wotan und Seaxnat nicht abgeschworen, am Hof des Thans von Seaxmund’s Hall gerefa geworden wäre.
Wie viele andere sächsische Mönche war auch Eadulf in allen Fragen der Liturgie, in der für den christlichen Glauben so wichtigen Datierung des Osterfests und in der Form seiner Tonsur den Lehren seines irischen Mentors gefolgt. Erst nach der Rückkehr aus Irland hatte Eadulf Geistliche kennengelernt, die sich in allen diesen Dingen nach dem von Rom eingesetzten Erzbischof von Canterbury richteten. Er hatte entdeckt, daß die römisch bekehrten Christen sich in mancherlei Hinsicht von den irischen Mönchen unterschieden. Ihre Liturgie klang ungewohnt, sie feierten Ostern an einem anderen Tag, und sogar ihre Tonsuren sahen anders aus.
Eadulf hatte beschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen und eine Pilgerreise nach Rom zu unternehmen. Zwei Jahre lang blieb er in der ewigen Stadt, um unter Anleitung der dortigen Meister zu studieren. Anschließend kehrte er mit einer corona spinea, einer römischen Tonsur auf dem Scheitel, nach Kent zurück und trug dem von Rom eingesetzten Deusdedit seine Dienste an.
Und nun sollte der jahrelange Streit zwischen den Lehren der irischen Mönche und den Lehren Roms bald geschlichtet werden.
Oswiu, der mächtige König Northumbriens, dessen Königreich von den irischen Mönchen aus Columbans Kloster auf der heiligen Insel Iona missioniert worden war, hatte beschlossen, in Streoneshalh eine große Versammlung abzuhalten. Vertreter der irischen und der römischen Seite sollten ihre Argumente darlegen. Anschließend wollte Oswiu nach reiflicher Überlegung ein für allemal entscheiden, ob sein Königreich der irischen oder der römischen Lehre folgen sollte. Und jedermann wußte: Northumbrien führte alle anderen an. Dem Urteil Oswius würden auch die anderen angelsächsischen Königreiche, von Mercia bis Ostanglien und von Wessex bis Sussex, folgen.
Aus allen vier Himmelsrichtungen strömten Kirchenführer nach Witebia, um sich zum Disput in der hoch über dem winzigen
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