Nur Der Tod Kann Dich Retten
Verstand verloren?
Aber dann war zum Glück irgendwas passiert. Er war zu weit entfernt gewesen, um zu sehen oder zu hören, was, aber irgendetwas war ganz offensichtlich passiert, jemand hatte irgendetwas gesagt, denn plötzlich klammerten Greg und seine Schwester sich nicht mehr aneinander wie zwei überhängende Efeuranken, sondern Greg ging in eine Richtung davon und Megan in die andere, und danach hatte Tim sie den ganzen Abend nicht mehr zusammen gesehen.
Auch jetzt war Megan nicht in seiner Nähe, bemerkte Tim und wusste nicht, ob er beunruhigt oder erleichtert sein sollte. Greg und Joey spielten mit ein paar Sportcracks eine improvisierte Runde Touch-Football, ohne die Gruppe von Jugendlichen zu beachten, die noch immer im Kreis saßen und Victor Drummonds abscheulichem Vortrag des alten Beatles-Klassikers »Strawberry Fields Forever« lauschten.
In dem schwachen Licht suchte Tim in der Runde vergeblich nach Megans Gesicht. Weder wiegte sie sich mit einigen anderen zu der Musik hin und her, noch schwenkte sie eine heruntergebrannte Kerze in der drückenden Luft. Erdbeerfelder waren offenbar nicht ihr Ding, dachte Tim erleichtert, weil er den blöden Song auch nie hatte leiden können. Er ergab überhaupt keinen Sinn.
Aber was ergab schon Sinn?
Ein süßliches Aroma wehte ihm in die Nase, als er in der Dunkelheit eine weitere Gruppe Jugendlicher erspähte, die unter einer großen Dattelpalme einen Joint kreisen ließ. Aus irgendeinem Grund hatten die Polizisten sie gewähren lassen, wahrscheinlich hatten sie beschlossen, dass die Kids bekifft weniger Ärger machen würden. Aber vielleicht waren sie auch zu dumm, um mitzukriegen, was direkt vor ihrer Nase abging.
Tim sah Ginger Perchak, Tanya McGovern und einige andere Mädchen leise weinen, während sie auf den nächsten Zug warteten, und er fragte sich, ob sie um Liana oder sich selbst weinten. Er fand es interessant, dass Mädchen eine Woche,
nachdem man Lianas Leiche aus der Erde geborgen hatte, noch immer bei der kleinsten Provokation oder manchmal auch grundlos in Tränen ausbrachen. Man musste sie nur falsch angucken – konnte man es überhaupt richtig machen? -, und schon flennten sie los. Und das, obwohl niemand sie beschimpfte oder beleidigte. Oder sie für schwul hielt. Warum war es Mädchen erlaubt – oder wurde sogar von ihnen erwartet -, in jeder noch so banalen Situation Gefühle zu zeigen, während von Jungen auch in der ernstesten Lage erwartet wurde, dass sie Haltung wahrten? Worin lag da die Gerechtigkeit?
»Es ist okay zu weinen«, hatte seine Mutter ihm mit Tränen in den Augen erklärt, als sein Vater ausgezogen war. Aber es war nicht okay. Das wusste er, ohne dass es ihm einer sagen musste. Sein Vater hatte die moralische Orientierung verloren, deshalb war ihre Welt auf den Kopf gestellt worden. Jetzt musste er wachsam sein, immer auf der Hut. Wenn er nicht stark war oder sich nur einen Moment lang abwandte, wenn er es zuließ, dass sein Blick sich mit Tränen verschleierte wie der seiner Mutter, wenn sie glaubte, dass niemand hinsah, wie sollte er dann je einen Ausweg finden? Wie sollte er sie aus diesem Dunkel herausführen?
Wieder schaltete er die Beleuchtung des Zifferblatts an, obwohl er wusste, dass seit dem letzten Blick auf die Uhr erst wenige Minuten verstrichen waren. Wo zum Teufel war Megan? Sie war weder mit Greg zusammen noch mit Ginger und Tanya, und es wurde langsam spät, in einer Stunde mussten sie zu Hause sein, und alleine wäre sie doch wohl bestimmt nirgendwohin gegangen. So blöd konnte sie nicht sein.
Und dann war die Abendluft mit einem Mal von einem wunderschönen Klang erfüllt. Ein Mädchen sang, ihre Stimme so rein und klar wie ein kalter Gebirgsbach. Kannst du mich am Morgen retten , sang sie, und die Stimme wurde mit jedem traurigen Refrain kräftiger und entschlossener.
Tim hielt den Atem an. Die Sängerin war Delilah Franklin.
Überall beugten Leute sich vor und neigten ihren Kopf in Richtung der Musik. Ungläubiges Flüstern wehte durch die Reihen. »Wer ist das?«, fragte irgendjemand tuschelnd. »Ist das wirklich Delilah Franklin?«, fragte ein anderer. »Muss Playback sein«, vermutete ein Dritter.
»Heilige Scheiße!«, rief Greg, ließ den Football fallen und drängte sich in den Kreis. »Ist das Big D, die ich da singen höre?«
»Was ist hier los?«, wollte Joey Balfour wissen, der atemlos neben Greg auftauchte. »Klingt wie ein brünstiges Schwein.«
»Halt’s Maul, Balfour«,
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